Sie wachte vom Ruckeln des A-Trains auf. Das Neonlicht der Wagendecke warf dunkle Schatten auf die Gesichter der Fahrgäste. Die meisten hatten den Blick gegen die Reklame an der Wand vor ihnen gerichtet. Oder starrten nahezu durch sie hindurch. Die Bremsen des Zuges quietschten in den Kurven. Sie blinzelte auf das Display ihres Handys. Der blaue Punkt bei Google Maps gab ihr zu verstehen, dass sie sich irgendwo unter dem East River befände. Draußen huschten weiter die schwarzen Betonwände des Tunnels am Wagen vorbei. Hinter ihnen musste das Wasser des Flusses rauschen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Tunnel das Wasser im Fluss teilte und in ihm der Zug mit ihr davonfuhr. Ihr fiel es schwer das Bild in ihrem Kopf hervorzurufen und der Gedanke hinterließ ein unangenehmes Zwicken in ihrer Schläfe.
Es waren noch etwa 40 Minuten bis zu ihr nachhause, aber sie stieg bei der nächsten Haltestelle aus und kletterte die Stufen in die Stadt hinauf. An der Oberfläche stieß ihr ein kühler Wind entgegen und sie band ihren Mantel fester zu. Seit sie in der Stadt lebte, war sie noch nie an dieser Haltestelle ausgestiegen. Ein paar vereinzelnde Seelen huschten durch die Straßen auf ihrem Weg nachhause von ihren Überstunden. Ansonsten war das Financial District ein fast schon gespenstischer Ort um diese Uhrzeit. Ein seltener Zustand in dieser Stadt, dachte sie.
Es trieb sie an die östliche Wasserfront. Sie stellte fest, ohne ein konkretes Gefühl mit dem Gedanken zu verbinden, dass sie seit ihrer Ankunft nicht einmal am Ufer der beiden Flüsse gestanden hatte. Oft war sie mit einem Taxi über den Highway gefahren, der sich direkt an den Uferlinien der Flüsse entlang zog und Millionen Menschen täglich im schleppenden Tempo in die Stadt hinein- und wieder aus ihr hinausbeförderten. Auch jetzt lief sie unter dem Lärm der Schnellstraße entlang, auf das Wasser zu. Vor ihr lag ein kleiner Park, dahinter eine kurze bepflasterte Promenade mit ein paar Bänken. Am Ufer angekommen lehnte sie sich gegen das Geländer, was sie und das Wasser trennte. Im Hintergrund rauschten die Autos auf dem Highway an ihr vorbei. Zwischendurch heulte eine Sirene auf. Sie stützte sich mit ihren Armen auf die Lehne des Geländers, legte ihren Kopf hinein und grub ihr Gesicht in den Stoff ihrer Jacke. Von dem Wasser unter ihr ging ein leises Plätschern aus. Zwischendrin ein sattes Glucksen. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf die Geräusche des Wassers zu konzentrieren.
Sie dachte an die Heimat. Das Wasser war immer schon der Nabel der Heimat gewesen. Sie hatte ihre Jugend an dem großen Fluss verbracht, der sich mitten durch das Stadtbild zog. Begleitet von dem Knistern der Einweggrills, dem Geruch von Sonnencreme, dem Klang von kreischenden Kindern und jugendlichem Gelächter. Der Fluss war der Ausweg der Sommerhitze und die Zuflucht an sonnigen Wintertagen. Er formte die Heimat von einem Ort zu einer Stadt.
Hier verschluckte der Beton die Wasserränder, vermauerte den Horizont. Umzingelt von Hochhäuserschluchten flüchteten die Bewohner der Stadt in die Parks. Auf kleine Grasflächen, die nach und nach künstlich erbaut worden waren, um ihnen einen Ausweg in die „Natur“ zu bieten. Weg von dem Lärm und dem Asphalt der Straßen.
Wie ironisch, dachte sie. Wie eine Blinde lief sie jeden Tag stadteinwärts, in die überfüllten Parkflächen, anstatt ihren Blick auf die Weite des Wassers zu richten. Die Stadt funktionierte wie ein Gürtel, der alle zusammenhielt. Alle in sich, stadteinwärts gekehrt. Den Blick gegen die nächste Betonwand gerichtet.
Ihr fehlte Weitsicht. Sie blickte in die Ferne. Auf die Skyline des anderen Ufers. Blinkende Lichter. Hohe Häuser. Mehr Beton.
Der Wind nahm zu und blies Strähnen in ihr Gesicht. Eine seltsame Insel, dachte sie. Umzingelt von Wasser hatte die Geschichte dieser Stadt wie so oft mit Meeren begonnen, die durchkreuzt wurden und schlussendlich Flüssen, die zu Land führten. Das Wasser hatte Wachstum und Reichtum in die Stadt getrieben. War ein Versprechen für „Fortschritt“ gewesen. Jetzt war das Wasser das verstoßene Kind der Stadt. Nie wirklich sichtbar, wenn man sich in ihr bewegte. Und distanziert, wenn man an seinem Ufer stand.
Sie hielt inne und atmete die kühle Winterluft ein. Als sie die nächste Parkbank erreichte ließ sie sich langsam darauf sinken.
Sie dachte zurück an die Heimat. So sehr sich die Heimat dem Fluss auch zuwendete, so sehr raubte sie ihm auch sein Wesen. Als Kind hatte sie bereits gelernt nicht im Fluss baden zu gehen. Die großen Containerschiffe, die mit der Zeit vermehrt ihren Weg durch den Fluss hinauf zum Meer und dann in die Welt gefunden hatten, verursachten Strömungen im Flussbett, die so kräftig waren, dass sie einen unter Wasser ziehen konnten. So hatte sie nie tiefer als bis zu den Knien in dem Fluss gestanden. Ebenso hatte sie nie aus ihm getrunken, weil er Jahre zuvor als Deponie für Chemikalien genutzt wurde. Er war missverstanden und misshandelt. Sie hatte nie näher darüber nachgedacht. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie oft eine leise Wehmut verspürt hatte, wenn sie am Fluss saß. Eine Wehmut, die von der Freude über seine Anwesenheit ausging, aber in einer ernüchternden Erkenntnis mündete. Vielleicht war diese Wehmut, auch nicht viel mehr als eine versteckte Scham gewesen. Die Scham hinter dem „was wäre wenn“.
Was wäre, wenn wir das alles nicht gebaut hätten? Sie blickte hinab auf die flackernden Lichtreflexionen, die auf der Wasseroberfläche tanzten.
Der Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest. Sie wandte sich der Stadt hinter ihr zu. Versuchte sich diesen Ort ohne die Betonsäulen des Highways, ohne die akkurat gezogenen Kanten der Parkfläche vorzustellen. Ohne die Motoren Geräusche und den Stadtlärm der bis ans Ufer drang. Sie schaute wieder auf die gegenüberliegende Skyline. Was wäre, wenn wir keins dieser Gebäude hochgezogen hätten? Wenn Meere und Flüsse nie Wege zu Städten gewesen wären. Wenn der „Fortschritt“ die Ufer dieser oder jener Insel nie erreicht hätte. Und ohne ihn, die Insel und ihre Bewohner nie für die ersten Siedlungen hätten weichen müssen. Und die Siedlungen nicht für die ersten Hochhäuser. So dass sich schließlich nie eine Stadt daraus geformt hätte. Eine Stadt, die das Wasser, ihre Quelle, später beschämt verstoßen würde – als Teil von etwas ewig Gestrigen.
Ein Hund bellte in der Ferne und sie schreckte zusammen.
Vielleicht war es einfacher sich aus „der Natur“ herausschälen zu wollen, dachte sie. Sie mit Beton zu begießen, sie zu versiegeln oder sie zu vermauern.
Wie ein Spiegel warf der Fluss die Stadtlichter wieder zu ihr hinauf. Es ergab ein schönes Spiel, fand sie. Ein paar Jogger liefen keuchend an ihr vorbei. Musik drang aus ihren Kopfhörern. Sie blieb noch eine Weile sitzen. Dann stand sie auf, drehte sich um, lief stadteinwärts und stieg die nächste subway station hinunter.