„Das Mutterland ist mehr wert als das Königreich des Himmels.“ | Über Corona in Nepal

25. April 2015, 11:56 Uhr. Nepal.

6000 km von Deutschland entfernt reißt ein Erdbeben innerhalb von nur drei Minuten auf 120 Kilometern Länge die Erde auf. Nach dem schlimmsten Erdbeben seit 80 Jahren liegt die Hauptstadt Kathmandu drei Meter weiter südlich, 800.000 Häuser sind zerstört, 20.000 Menschen verletzt und 8.000 Menschen tot. Viele im Land leiden bis heute an den Folgen.

Fabien Matthias war 2015 im Zuge eines freiwilligen sozialen Jahres vor Ort. Ihm ist zu dieser Zeit schmerzlich bewusst geworden, für wie selbstverständlich wir sauberes Trinkwasser, eine gute ärztliche Versorgung, ein Dach über dem Kopf oder den Zugang zu Bildung nehmen. Von dieser Selbstverständlichkeit ist Nepal weit entfernt. Als Antwort nicht nur auf das Erdbeben wurde der gemeinnützige Verein NePals ins Leben gerufen, mit dem Ziel Entwicklungshilfe neu zu denken – also die Verbindung zwischen Gewinnmaximierung und Umweltzerstörung sowie der globalen Ungleichheit zu lösen. Unsere Gruppe von Studierenden versorgen damals wie heute entlegene, besonders schlimm betroffene Bergdörfer Nepals mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Zelten. Auch beim Wiederaufbau einiger Dörfer leisteten wir Unterstützung. Doch was als kurzfristige Nothilfe begann, wurde zu einer langfristigen Herzensangelegenheit.

Heute

Fünf Jahre nach dem großen Beben hat sich viel getan im Himalaya-Staat, der zu den ärmsten der Welt gehört. Zwar wurden die meisten Gebäude wiederaufgebaut, doch wie vor dem Beben ist es noch lange nicht. Etwa 20 Prozent aller Gebäude, die durch das Erdbeben beschädigt wurden, sind laut der Hilfsorganisation Plan International[i] noch immer kaputt. Geldmangel und administrative Hürden erschweren den Aufbau, auch kulturhistorische Auflagen, weil manche Gebäude zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen.

Schwere Erdbeben trafen Nepal –
Nun trifft Corona auf ein bereits gebeuteltes Land

Und wie es das Schicksal des asiatischen Landes so will, wird Nepal erneut herausgefordert. Das Virus SARS-CoV-2, welches in China seinen Ursprung nahm und inzwischen 20.000 Menschen in Nepal ansteckte und 56 tötete. infolge der Pandemie seinen südwestlichen Nachbarstaat erreichte. Mit 20.000 bestätigten Fällen und 56 Todesfällen (Stand 14.08.2020) Zwar ist Nepal im internationalen Vergleich recht unversehrt geblieben, doch vor allem die Nebeneffekte des Lockdowns und die Versorgungsengpässe zu Lande haben gravierende Konsequenzen[ii] (Roser et. al 2020).

Nepals arbeitet eng mit der Bevölkerung vor Ort zusammen und haben aus unserer langjährigen Erfahrung einige Kontakte angesprochen und gefragt, wie sie mit der aktuellen Situation und dem Lockdown umgehen. Zu Wort kamen der Tagelöhner (day-to-day-worker), ein Schullehrer und ein Unternehmer aus Nepal, denen alle die gleichen Fragen gestellt wurden.

Das lange Warten

„Die Situation ist kritisch. Wir sitzen hier in Nepal alle im selben Boot und sind auf Hilfe angewiesen“ verkündet Sugrim Patel, ein Lehrer aus der Region Parasi. Seit dem Erdbeben hätten sich viele Familien beim Wiederaufbau verschuldet und könnten es sich nicht leisten Ihre Kinder zur Schule zu schicken. Die verbleibenden Schüler werden zum Teil immer noch in temporären Lernzentren untergebracht, die aber seit dem Ausbruch des Virus komplett geschlossen bleiben. „Alle Probleme, die wir bis dato hatten, werden jetzt potenziert.“ Es werden die Abschlussklausuren verschoben und der komplette Bildungssektor erlebe eine erneute Verschiebung nach hinten. Währenddessen vertreibt sich der gebürtige Nepalese die Zeit daheim mit stricken oder familiären Aktivitäten, wie wandern oder gemeinsames Kochen. Die Gemeinsacht im Dorf rücke näher zusammen und bringe ein Stück Ordnung in Krisenzeiten, betont Patel.

Der Hungertod scheint näher als eine Corona-Infektion

Noch schwieriger ist es für die Tagelöhner, die ohnehin von der Hand in den Mund leben. „Mir ist die Arbeitsform egal, Hauptsache ich werde bezahlt“ verkündet Rakshim in unserem Gespräch. Arbeit zu finden war während des bis vor kurzem anhaltenden Lockdowns unmöglich, geschweige denn eine Familie zu ernähren. Selbst mit Lohn könnte Rakshim keine einfachen Nahrungsmittel wie Öl, Reis und Bohnen kaufen, so gravierend sind die Versorgungsengpässe. Die Angst, seine drei Kinder nicht ernähren zu können, ist allgegenwärtig für Rakshim. Er setzt all seine Hoffnungen auf die Regierung, die vor ein paar Tagen einige Säcke Reis in Rakshims Dorf verteilt hat. Doch es kam zu Schlägereien und Ausschreitungen in der Warteschlange – der Bedarf nach Nahrung wird zu einem Kampf nach Nahrung und sät Misstrauen in der Gemeinde. Auf die Frage, wie man gestärkt aus der Krise hervortreten könnte, antwortet Rakshim: „Die Regierung muss in diesen Zeiten entweder für Essen oder für Jobs aufkommen. Falls beides nicht geschieht, sterben wir.“

Lokale Bevölkerung aus der Region Parasi beim Warten auf Reis und Soja tragen, Bild: Ashok Poudel

Zwischen Korruption und Ineffizienz

Die Hoffnung von Rakshim wird nach Chandan Dais Erfahrung lange auf sich warten lassen. Der Unternehmer hat in den letzten 15 Jahren so einige Erfahrungen mit der Regierung gemacht: „Geld von Hilfsorganisationen kommt nicht da an wo es ankommen soll! Die Regierung ist durchsiebt von Korruption und wenn dann mal was getan wird, dann an den falschen Stellen.“ Nepal belegt auf dem weltweiten Corruption Perception Index(CPI) Platz 115 von 175 und schneidet damit unterdurchschnittlich ab. Wegen der nationalen Ausgangssperre war auch Chandan gezwungen, seinen Laden zu schließen. In Nepal gibt es die Redensart “Ke garne”, wörtlich etwa: „was soll man machen!“ Also macht auch Chandan einfach weiter und versucht, der Krise auch etwas Positives abzugewinnen: Der Smog sei verschwunden, von seinem Haus aus könne man nun den Himalaja sehen. „Das ist einfach traumhaft, doch wäre es noch schöner, würden Touristen hier sein und für diesen Ausblick zahlen.“ Denn viele Jobs hängen stark vom Tourismus ab, der sich vor allem auf das Bergsteigen konzentriert.

Desinfiziert die Regierung

Gerade die junge Bevölkerung wehrt sich vehement gegen den politischen Umgang mit dem Virus. Die #Sanitizethegovernment-Bewegung ist auf zahlreichen Straßenprotesten in Kathmandu anzutreffen[iii]. Die soziale Bewegung fordert einen konkreten Plan zur Pandemieeindämmung und mehr erschwingliche Coronatests für die Bevölkerung. Gleichzeitig kämpft die Bewegung gegen Korruption: Die Demonstrierenden fordern Transparenz über die Verwendung von Hilfsgeldern in Millionenhöhe. Leider kommt es bei den Demonstrationen zu Ausschreitungen mit Sicherheitskräften der Regierung.

Die nie enden wollende Krise

Als Entwicklungsland ist Nepal ohnehin schwer von dem Virus getroffen, die Nachwehen des Erdbebens und die Unfähigkeit und der Egoismus der Regierung verstärken die Krise noch umso mehr. Dies kann laut Charlie Mathias, Leiter des Wasserprojektes bei NePals, zum Beispiel daran gesehen werden, dass Amtsträger nur Lebensmittel an ihre Wählerschaft verteilen und politisch Andersdenkende hungern lassen. Des Weiteren lassen sich Politiker von falschen Informationen leiten: LKWs mit Hilfsgütern wurden daran gehindert in Dörfer zu fahren, weil Sicherheitskräfte dachten, das Virus würde an Autos haften. Zu dieser Absurdität kommt hinzu, dass Infizierte in öffentlichen Schulen untergebracht werden, da keine alternativen Aufenthaltsorte zur Verfügung stehen. Nepals steht noch vor anderen Herausforderungen: Das Grundwasser in Nepal ist mit Schwermetallen und Bakterien vermischt während viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Sie trinken das kontaminierte Grundwasser und erkranken oder sterben gar an den Folgen. Das Menschenrecht auf trinkbares Wasser steht in Kontrast zu der Wasserqualität in Nepal, die nicht einmal den WHO-Standards nahekommt. Unser Ansatz, der Bevölkerung sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen, funktioniert über dezentrale Wasserfiltersysteme in kleinen, abgelegenen Dörfern. Der lokale Wasserverkauf wird jedoch unmöglich gemacht, da die Filteranlagen für das mit Schwermetallen verseuchte Grundwasser in den Schulen stationiert sind. Dadurch werden die durstigen Menschen gezwungen, an den Kranken vorbeizugehen, um an frisches Trinkwasser zu kommen.

Himalayagebierge bei Sonnenaufgang, Bild: Chandan Dai

Call-to-Action

All die angesprochenen Missstände sind Teile von einem flächendeckenden Problem in der nepalesischen Gesellschaft, welches in Zeiten von Corona umso stärker zum Vorschein kommt. Es ist an der Zeit ein Pal zu werden und damit Menschen Chancen zu bieten, Verantwortung zu übernehmen und Probleme nachhaltig anzugehen. Ganz nach der nepalesischen Maxime, „Das Mutterland ist mehr wert als das Königreich des Himmels.“, ist es dabei wichtig im hier und jetzt mitzuhelfen, denn nur das zählt.

Wir packen während der Corona-Krise mit an. Etwa über spendenfinanzierte Essenslieferungen oder über das Übersetzen von Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen vom Englischen in Nepali. Unserer Meinung nach sind kurzfristig direkte Maßnahmen nötig, um der Bevölkerung in dieser Situation zu helfen. Gleichzeitig ist es unser Ziel, dass sich die von uns initiierten Projekte selber tragen langfristig in die Gesellschaft integriert und unabhängig umgesetzt werden können. Unsere Vision lautet:

It is possible to break the link between profit maximization and environmental destruction as well as the global inequality

In diesem Sinne stehen wir geschlossen für soziales Unternehmertum ein, um die zukünftigen gesellschaftlichen Probleme anzugehen.


Möchten Sie sich auch an unseren Projekten beteiligen oder gemeinsam mit uns ganz neue Herausforderungen angehen? Dann werden Sie Teil unserer Gemeinschaft und schaffen Sie mit Ihrem Fachwissen, Ihrem Engagement und Ihrem Potenzial einen Mehrwert. Alle Infos unter www.nepals.net.


[i] https://plan-international.org/nepal/nepal-earthquake-response

[ii] Max Roser, Hannah Ritchie, Esteban Ortiz-Ospina and Joe Hasell (2020) – “Coronavirus Pandemic (COVID-19)”

[iii] TAZ (2020) – “Desinfiziert die Regierung”. Abgerufen am 16.08.2020 unter https://taz.de/Demos-gegen-Coronamassnahmen-in-Nepal/!5689468/