Es ist der 18. Oktober, der Herbstwind weht um meine Nase, als ich aus dem Bus steige und an der Busstation „Cambridge City Centre“ stehe, die direkt am Rande eines großen Parks liegt. Ich sehe mich um und frage mich, wie ich nun wohl am schnellsten zu den Gebäuden der Uni gelange. Fragt man hier jedoch jemanden danach, wie der Weg zur Universität sei, wird einem nur mit einem Schmunzeln entgegnet: Cambridge ist eine einzige Uni, und eine Trennung von Stadt und Universität sei hier unmöglich. Viele Gebäude der Stadt gehören zur Uni, von denen man es gar nicht vermutet – was einen großen Einfluss der prestigereichen Universität in der Stadt Cambridge vermuten lässt.
Während ich also am Park entlang in Richtung Stadtmitte laufe, beobachte ich Kricket-Mannschaften, die dort trainieren, und Absolventen, die in schwarzen Gewändern und mit Graduationshüten auf dem Kopf neben ihrer Familie für Fotos posieren. Heute muss wohl der Tag der Graduierung sein, denke ich, und setze meinen Gang fort. An mir vorbei fahren etliche Fahrradfahrer, was in dieser Stadt mit ihren engen, verwinkelten Gassen wohl das Hauptfortbewegungsmittel ist.
In der Stadtmitte angekommen laufe ich an einer Reihe von süßen kleinen Läden und Cafés vorbei. Von Schokoladengeschäften über Pubs bis hin zu Büchereien: Alles scheint hier im Einzelhandel erhältlich zu sein, was der Universitätsstadt einen besonderen, zauberhaften Charme verleiht. Die herbstlichen Farben und das von den Bäumen gefallene Laub harmonieren perfekt mit der altertümlichen Architektur der Stadt, die mit ihren hellen Gemäuern und dem gotischen Baustil die Seele des 17. und 18. Jahrhunderts verkörpert.
Ich bahne mir meinen Weg durch die Straßen und komme dabei an etlichen Colleges vorbei, von denen manche für den Touristen geschlossen sind. Es sind die Studenten, die traditionell in ihren schwarzen Roben durch die Stadt schlendern, was sie sofort von den Stadtbewohnern abgrenzt – sie geben dieser Stadt ihre unverwechselbare Atmosphäre. Es liegt ein Gefühl von Zielstrebigkeit und Passion in der Luft, und irgendwie verleihen die Studenten und Professoren dieser Stadt einen einzigartigen Vibe, den ich so noch nirgendwo erlebt habe.
Am frühen Abend hole ich Olivia von ihrem Kurs ab. Seit drei Jahren studiert Olivia in Cambridge ‚Modern and Medieval Languages“ mit Deutsch und Italienisch. Gerade kommt sie von einer „Supervision“; das bedeutet Einzelunterricht, den man als Student ein oder zwei Mal pro Woche mit dem Professor des jeweiligen Fachgebietes hat. Für jede Supervision müssen die Studenten ein Essay schreiben, welches dann im Zweiergespräch diskutiert und erörtert wird. Das Essay, das gerade besprochen wurde, behandelte den Verlauf des ersten Weltkrieges, sagt Olivia. In der Uni nimmt sie die Werke deutscher Philosophen durch und beschäftigt sich mit der deutschen Geschichte.
Sie gibt mir eine Führung durch die Stadt (oder soll ich Uni sagen?), zeigt mir die verschiedenen Colleges und Fakultäten. Einige davon sind größer und bekannter, wie das renommierte King’s College, andere sind kleiner, aber jedes hat seinen eigenen Charme, mit großen Gärten im Innenhof, eigenen Lehrräumen, Kapellen, Bars und Bibliotheken. Insgesamt gibt es einunddreißig Colleges an der University of Cambridge, in denen jeweils zwischen 200 und 400 Studenten zusammen leben, lernen und studieren. Die Zugehörigkeit zu einem College spielt eine große Rolle für das Studium und Leben als Student in Cambridge: Studenten, die nicht in ihrem College, sondern in einer privaten Wohnung in der Stadt leben, gibt es fast gar nicht.
Während unseres kleinen Spaziergangs kommen wir an der modernen, verglasten Fakultät für Jura, dann an der für Moderne Sprachen und Klassik vorbei. Zwölftausend Bachelorstudenten studieren gerade in Cambridge, von denen sich alle durch das harte Bewerbungsverfahren mit einer aufwendigen Bewerbung, bis zu vier Interviews pro Tag und – je nach Fach – mehreren Tests gekämpft haben. An dem Tag sei sie so aufgeregt wie selten in ihrem Leben gewesen, erinnert sich Olivia, doch gleichzeitig sei es eine große Ehre, überhaupt zu einem Interview eingeladen worden zu sein.
Wir kommen an Olivias College an, dem im Jahr 1882 erbauten Selwyn College, zu dem ein riesiger Innenhof und eine eigene Kapelle gehört, in der gerade der Klassik-Chor des Colleges probt. Als nächstes zeigt sie mir ihr Zimmer im 3. Stock, wo sie mit acht weiteren Studenten sowie einem Professor auf einem Flur wohnt und sich Küche und Bad teilt. Das Zimmer ist klein, bescheiden und gemütlich und offenbart einen Blick auf den Innenhof des Colleges.
Es ist Abend, die Dämmerung breitet sich über Cambridge und dem Selwyn College aus. In wenigen Minuten beginnt das „Formal Hall Dinner“ in der Speisehalle des Colleges. Die Studenten tragen traditionell ihre schwarzen Roben und die Gäste, darunter auch einige Eltern, sind leger, aber elegant gekleidet – Jeans oder Sneakers sind verboten. Der Saal füllt sich und die Gäste gesellen sich an die lange Tafel. Die Atmosphäre in diesem Raum, das Kerzenlicht und die hohen Wände lassen einen unwillkürlich an Harry Potter denken. Ein Gong ertönt, alle Anwesenden erheben sich, und die Professoren, die im hinteren Teil des Saals an einem erhöhten Tisch dinieren, treten ein. Dann liest ein Student ein Tischgebet auf Latein vor, danach wird der erste Gang serviert. An den Wänden hängen Gemälde von ehemaligen Professoren, die in diesem College unterrichtet haben, sowie vom Master, der das Selwyn College gegründet hat. Seit 40 Jahren dürfen auch Frauen am Selwyn College studieren, weshalb Fotos von Studentinnen und Professorinnen, die das College in besonderer Weise repräsentieren, neben die Bilder gehängt wurden.
Sieben bis acht Stunden am Tag arbeitet Olivia durchschnittlich für die Uni, und zwar von Montag bis Sonntag. Dies entspräche dem normalen Maß an Zeitaufwand, den ein jeder Cambridge-Student täglich aufbringe, erzählt sie mir. Dennoch bleibe für viele Studenten Zeit, sich einen Ausgleich abseits des Studiums zu suchen: Für sie ist es Triathlon, wofür sie fünf bis sechs Mal die Woche ein bis zwei Stunden am Tag mit der Uni-Mannschaft trainiert. Auf die Frage, ob es hier auch weniger ambitionierte Studenten gibt, schüttelt sie den Kopf: Das sei das Besondere, das es ausmacht, hier zu studieren – einfach jeder Student hat diesen Antrieb und Ehrgeiz, jeder nimmt es ernst und gibt sein Allerbestes. Anders wäre man hier auch nie reingekommen.
Das Essen neigt sich dem Ende zu, und nachdem auch die Desserts verzehrt und Kaffeetassen geleert worden, geht es weiter in die Bar des Colleges, um den Abend ausklingen zu lassen. An den Wänden hängen dutzende Mannschaftsfotos ehemaliger College-Teams, unter anderem Rugby-, Tennis-, Fußball-, und Hockey- sowie Lacrosse- und Rudermannschaften aus den vergangenen Abschlussjahrgängen. „Das ist das Beste daran, hier zu studieren“, sagt Olivia, „die unglaublich vielen Möglichkeiten, die den Studenten geboten werden, durch ´Clubs & Societies´, aber auch die besonderen Verbindungen, die man zu Professoren und Kommilitonen schließt, machen ein Studium in Cambridge so besonders. Hier lernt man Leute kennen, die genau so fleißig arbeiten wie man selbst, die ihre eigenen Ziele klar vor Augen haben und zu denen man trotzdem auch außerhalb des Studiums lebenslange Freundschaften aufbaut. Diese Gesprächskultur, diese Form des Zuhörens und Debattierens würde ich niemals missen wollen.“
Der Besuch in Cambridge war außergewöhnlich, interessant und voller neuer Eindrücke: Die Stimmung in den Colleges und in der Stadt, welche einer intellektuellen Hochburg gleicht und die Besucher mit ihrem antiken Charme verzaubert. Das Supervision-System mit den Einzelsitzungen, welche sofort auf das ambitionierte Lern- und Lehrverständnis an dieser Universität hindeutet. All dies hat den Besuch zu einem bereicherndem Erlebnis gemacht, sodass ich einen Trip nach Cambridge jedem weiterempfehlen würde.