2003 wurde Karen van den Berg Professorin und Gründungsdekanin des Departments für Kultur- und Kommunikationswissenschaften an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Dort hat sie den Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis inne und ist Sprecherin des artsprograms der Zeppelin Universität sowie des Zentrums für Kulturproduktion. Um über Hochschulpolitik, ihre Forschungsschwerpunkte und weiteres zu sprechen, traf sie sich mit Futur drei zum Interview.
Was hat Sie als junge Schülerin oder Studentin zu den Kunst- und Kulturwissenschaften geführt?
Ich bin auf einem Bauernhof an der dänischen Grenze aufgewachsen – mein Vater war Berufspolitiker, meine Mutter hat in seiner Abwesenheit über Haus und Hof gewacht und war Hobbyrestauratorin. Die Beschäftigung mit der Kunst lag damals also gar nicht nahe. Ich überlegte eher, als Restauratorin oder im Bereich Chemieingenieurwesen zu arbeiten. Nach dem Abitur begann ich dann zunächst ein Studium der Verfahrenstechnik in Stuttgart. Meine dortige Nachbarin war als zufällig Restauratorin tätig und bot mir an, sie beim Restaurieren zu unterstützen. So bemerkte ich eigentlich erst, dass mir der Umgang mit Kunstgegenständen sehr viel näher lag. Ich brach mein Studium im 2. Semester ab und begann ein Praktikum bei einem Restaurator in Dänemark.
Gab es ein einschneidendes Erlebnis, welches Sie weg vom Handwerklichen und Gestalterischen hin zur Kunsttheorie brachte?
Durch meine Tätigkeit in Kopenhagen merkte ich, dass ich Hintergrundwissen zu den Kunstgegenständen brauchte und begann, Kunstgeschichte in Saarbrücken zu studieren. Als einschneidendes Erlebnis könnte man meine Lektüre eines Aufsatzes des Wiener Kunsthistorikers Otto Pächt bezeichnen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich in der Bibliothek saß und plötzlich beim Lesen eines Textes zur Buchmalerei des Mittelalters innerlich sehr bewegt war. Mich berührte Pächts Einfühlungsvermögen und die Tatsache, dass Bilder über Jahrhunderte hinweg auf eine so direkte Weise Empfindungen und Weltverhältnisse zum Ausdruck bringen können. Von da an wollte Kunst genauso so präzise, klug und einfühlsam wie Pächt beschreiben können.
Nach ihrem Wechsel nach Basel, wo sie bei Gottfried Böhm promovierten und als Kuratorin arbeiteten, waren Sie ab 1995 an der Uni Witten/Herdecke tätig, zunächst als HiWi, dann als Dozentin und Kunstvermittlerin. Dort lernten Sie Stephan Jansen kennen.
Schon damals arbeiteten wir in Witten eng in einer Gruppe zusammen, die aus Stephan Jansen, Birger Priddat, Franz Liebl und meinem damaligen Ehemann Jörg van den Berg bestand. Das gemeinsame Ziel, das wir verfolgten war, ein interdisziplinäres Forschungsinstitut aufzubauen, in dem Philosophinnen, Ökonomen, Soziologinnen, Ethnologen und Künstlerinnen interdisziplinär zur Zukunft unserer Gesellschaft forschen sollten. Wenig später kam dann eine Anfrage an Stephan Jansen, Geschäftsführer einer privaten Business School am Bodensee zu werden. Stephan Jansen akzeptierte unter zwei Bedingungen: Zum einen, nicht nur Geschäftsführer zu werden, sondern die Hochschule auch inhaltlich gestalten zu können, und zum anderen, diese Gruppe als Gründungsteam mitnehmen zu können. Das war für uns wie ein Sechser im Lotto, für Birger Priddat, der in Witten Dekan der Wirtschaftswissenschaften war, war es aber auch ein ungemeines Risiko, weil man nicht wissen konnte, ob das gut geht.
Wie entwickelten Sie als Team der Gründungsdekane dann von diesem Punkt aus die Universität?
Die damaligen Gesellschafter wünschten sich eine Elite-Institution mit hartem Auswahlverfahren. Wir fanden den Elitebegriff jedoch eher problematisch, zumal er als Selbstzuschreibung ohnehin nicht funktioniert. Wir wollten Studierende ausbilden, die nicht nur in bestehenden Arbeitszusammenhängen und Leistungsprofilen exzellent „funktionieren“, wir wollten „Change Agents“, die sich für soziale Innovationen einsetzen, unternehmerisch denken und auch zum Scheitern bereit sind. Wir wollten Pioniere statt Eliten. Essentiell war dabei auch ein neuer postheroischer Management-Begriff, der sich weniger an ökonomischer Optimierung ausrichtet, sondern sich als Navigierungskompetenz in unsicheren, dynamischen gesellschaftlichen Verhältnissen versteht. Das Konzept des forschenden Lernens und der Interdisziplinarität haben wir aus Witten/Herdecke mitgebracht, wollten es mit der Vorstellung, dass alle Studierenden im ersten Studienjahr dasselbe Programm studieren aber noch viel konsequenter umsetzen. Daran hat die Organisation in all den Jahren immer weiter gearbeitet – bis hin zur Einführung des Zeppelin-Jahrs und der forschenden Lehre ab dem ersten Semester. Und ich finde es, lohnt sich, um diese Idee weiter zu ringen und sie nicht aufzugeben. Deshalb freue ich mich, dass es hier durch die Förderinitiative Forschendes Lernen 2.0 und das Team um Jan Söffner frischen Wind gibt.
Sie sind eine der letzten Verbliebenen aus der Gründungsphase der ZU. Können Sie ein bisschen davon erzählen, wie Sie die Atmosphäre damals zu Zeiten des Aufbaus wahrgenommen haben?
Natürlich war die Atmosphäre damals vollkommen anders als jetzt, zum Glück! Wir wurden ja zu Beginn von vielen als romantische Spinner angesehen, die behaupteten, sie könnten einfach eine Universität gründen. Es war überhaupt nicht klar, ob das Projekt gelingen würde oder ob wir Verrückte sind, die grandios scheitern. Unsere ersten Studierenden waren Abenteurer, die neugierig waren und sich dadurch angezogen fühlten, an so einem Aufbau mitzuarbeiten. Die ZU bestand damals aus 12 Angestellten, und in der Gründungsphase war zunächst alles vollkommen improvisiert: Einige Seminarräume waren im Gebäude der DHBW und andere in Teilen des Altbaus am Seemoos. Alles war miniklein, jeder kannte jeden mit Namen, wusste, wo die anderen herkommen, warum sie hier sind, und kannte meist sogar noch die begeisterten Eltern dazu. Es gab ein fast kultisches und quasi-religiöses Verhältnis der Studierenden zur Universität und bei vielen gerade auch zum Präsidenten. Viele Studierende trugen das mit einem unglaublichen Sendungsbewusstsein und einer euphorischen Begeisterung nach außen. Professor*innen und Studierende reisten zusammen auf Bewerbermessen, um die Werbetrommel für die Idee dieser Universität zu rühren, mit der sie sich alle extrem verbunden fühlten – weil sie eben auch ihre war. Stephan Jansen erwies sich als genialer Fundraiser, der unheimlich viele Menschen aus der Wirtschaft begeistern konnte und der Organisation die Möglichkeit gab, das alles in einer unglaublichen Geschwindigkeit aufzubauen.
Wie lange hat diese Stimmung angehalten? Nehmen Sie auch diesen Wandel der Universitätskultur war, von dem manche im „Früher war alles besser“-Tonus sprechen?
Es war klar, dass wir aus dieser festivalartigen Atmosphäre irgendwann rauswachsen müssen – und dass man so nicht auf Dauer arbeiten kann. Mit dem Neubau am Seemoos kam für die Studierenden schon ein Wendepunkt: Plötzlich waren wir keine improvisierte Organisation mehr, in der man Stühle gerückt hat, nun hatten wir ein schickes Gebäude. Viele Studierende empfanden das als falsches Signal und wollten den Improvisationsmodus eigentlich nicht verlassen. Das „Früher war alles besser“ gab es also eigentlich schon damals an der ZU. Ich selbst halte jedoch gar nichts von dieser Formel. Sie steht einem im Weg, wenn man innovativ sein will. Man kann keine Aufbruchstimmung über die Jahre konservieren, man muss sich immer wieder neue Ziele setzen und von dort aus eine neue Aufbruchsstimmung erzeugen.
Ein beliebter Vorwurf unter Studierenden ist, dass sich der Charakter und die Heterogenität der Studierendenschaft zum Negativen verändert hat – weg vom Freigeist-Denken, hin zur Business-Uni. Stimmen Sie dem zu?
Die Klage, dass nicht mehr der gleiche Typ von Studierenden kommt, gab es schon unter der Führung Jansens. Ich kann allerdings keinen Qualitätsabfall beobachten; eher das Gegenteil ist der Fall. Aber natürlich haben wir heute andere Bewerber als früher. Wenn man als Universität plötzlich oben in den Rankings auftaucht, ist es völlig klar, dass sich Bewerber mit ganz anderen Motiven bewerben. Es sind dann eben nicht mehr die Abenteurer, die eine Universität mitentwickeln wollen. Wir haben uns schon vor zehn Jahren Gedanken darüber gemacht, wie wir für mehr Heterogenität in unserer Studierendenschaft sorgen können. Ich finde, da ist vieles gelungen – es gab plötzlich eine kleine LGBT-Gruppe, die Blaue Blume wuchs heran und es kamen etwas mehr Studierende mit Migrationshintergrund an die ZU. Das ist natürlich immer noch ausbaufähig. Ich möchte aber behaupten, dass sich dieser Gründungsimpetus – mit den vielen studentischen Initiativen und unabhängigen Projekten – sich als Kultur der ZU sehr gut durchgehalten hat. Wenn ich mir heute die Initiativen, den Research Day und das, was die Studierenden alles machen, anschaue, finde ich, dass diese Kultur des „Querlernens“ unter den Studierenden auf beeindruckende Weise lebt. In das Horn „Früher hatten wir bessere Studierende“ kann ich also nicht stoßen.
Was ist in Ihren Augen wichtig für die Zukunft der ZU?
Als Privatuniversität, die sich in Deutschland in einem ungleichen Wettbewerb bewegt, besteht eine Notwendigkeit sich ständig zu reformieren, denn wir müssen immer besser oder deutlich anders sein als die kostenfreien Studienprogramme. Man muss daher einen guten Grund haben hier herzukommen. Die anderen Universitäten schlafen nicht – sie haben es nur vielleicht schwerer, Reformen durchzusetzen, weil sie größere Schiffe sind. Wir als kleine Organisation können dagegen schneller auf disruptive Umbrüche und Herausforderungen reagieren. Diesen Wettbewerbsvorteil müssen wir nutzen. Ich glaube auch, dass mit einem innovativen, alternativen Managementbegriff nach wie vor viel zu holen ist. Deshalb sind wir auch derzeit in einem Prozess, neue Programme zu entwickeln, die es wiederum nach sich ziehen werden, dass wir andere Studierende bekommen werden. Das sehen wir gerade am Master AMC. Auch eine Weiterentwicklung des forschenden Lernens hat die Uni auf einen guten Weg gebracht.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist künstlerischer Aktivismus. Welchen aktiven Beitrag können in Ihren Augen Aktionen wie die des Zentrums für Politische Schönheit („Flüchtlinge fressen“ und „Kindertransporthilfe des Bundes“) zur Politik und zur gesellschaftlichen Debatte leisten?
Ich unterscheide zwischen künstlerischem Aktivismus und sozial engagierter Kunst. Aktivisten sind nicht unbedingt Leute, die sozial engagierte Kunstprojekte betreiben. Sie agieren interventionistisch, weisen auf politische Probleme hin, organisieren Proteste und zeigen alternative Perspektiven auf. Beispiele wären hier Pussy Riot, Femen, Ai Weiwei und auch das Zentrum für Politische Schönheit. Unter den Begriff sozial engagierte Kunst fallen dagegen Projekte, die versuchen, in Communities soziale Verhältnisse nachhaltig zu verändern, wie zum Beispiel die Blaue Blume hier in Friedrichshafen. Die Beiträge, die diese Projekte leisten, sind sehr verschieden. Ich selbst interessiere mich dafür, welche im Kunstfeld erworbenen Praktiken und Wissensformen genutzt werden, um gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen, und auf welche Resonanzen das stößt.
Greift hier der Vorwurf, dass der „Artivismus“, also aktivistische Kunstpraktiken, politisch folgenlos und in der Hinsicht naiv sind, als dass sie zynisch mit realem sozialen Elend umgehen, um Medienaufmerksamkeit zu erhaschen, aber keine echten Handlungsalternativen bieten?
Es ist Aufgabe der Kunst, den Möglichkeitssinn zu schärfen und neue Praxisformen zu entwickeln – und neue Perspektiven auf die Wirklichkeit, in der wir leben. In meinen Augen ist es selbstverständlich ein berechtigtes Anliegen, mit den Mitteln der Kunst soziale Probleme zu adressieren. Dabei finde nicht, dass die Kunst immer schon eine Antwort parat haben muss. Aber gerade politische und sozial engagierte Kunst muss state of the art sein in der politischen Debatte und sich mehr Gedanken über ethische Folgen des eigenen Tuns machen.
Eine weitere Assoziation, die man zwischen Kunst und Politik ziehen kann, ist die Frage, inwiefern sich Kultureinrichtungen gesellschaftspolitisch positionieren sollten. Was sagen Sie zu der Untersagung des Dessauer Bauhauses, die linke Punk-Band Feine Sahne Fischfilet auftreten zu lassen?
Ich bin grundsätzlich nicht der Meinung, dass man gut daran tut, radikale oder „populistische“ Positionen aus Debatten auszuklammern. Verbote befeuern meist das Gegenteil. Die Grenze ist hier allerdings der Rahmen der Verfassung. Darin erhält die Kultur eine gewisse Autonomie. Dennoch enthebt das nicht der Pflicht, sich als öffentliche Einrichtung zu legitimieren und das Tun zu begründen. Gerade als Bauhaus mit politischer Historie zu sagen: „Naja, wir sind ja keine politische Einrichtung“ finde ich kein gutes Argument.
Was bedeutet es für das Kunstfeld, wenn wie vergangene Woche erstmals Gemälde, die durch Computer-Algorithmen geschaffen wurden, in Auktionshäusern wie Christie’s für knapp 400.000 Euro versteigert werden? Schafft Künstliche Intelligenz den Künstler ab?
Diese Debatte ist nicht neu, die gab es schon bei der Erfindung der Fotografie. Bestimmte Kunstpraktiken können durchaus automatisiert werden, aber eine künstlerische Haltung einnehmen zu können, davon ist die künstliche Intelligenz doch noch sehr weit entfernt. Der Hype um dieses Bild hat auch eher damit zu tun, dass das Bild als angeblich erstes KI-produziertes Bild angepriesen wurde. Da es zudem ganz cool aussieht, eignet es sich daher als Trophäe. Das wird keine Umwälzung der Kunstwelt nach sich ziehen.
Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch? Und haben Sie eine Buchempfehlung für uns?
Gerade lese ich „Poverty Safari“ von Darren McGarvey. Am Beispiel der britischen Unterschicht untersucht der Autor, inwiefern jener Stress, mit dem ein Leben in Armut einhergeht, sich in Haltungen, Charakterzüge und Verhaltensweisen einschreibt, die einen self fulfilling prophecy-Zyklus erzeugen. Außerdem wirf McGarvey die unangenehme Frage auf, wie Helfende und soziale Organisationen darin verstrickt sind. Ein weiteres, sehr bewegendes Buch, welches ich kürzlich gelesen habe, ist „Das Inzest-Tagebuch“ einer anonymen Autorin. Ein erschütternder Bericht über Gewalt und Abhängigkeit.