Was kann man tun, um sich für eine offene, tolerante und bunte Gesellschaft einzusetzen? Bunt in dem Sinne, dass Menschen verschiedener kultureller, sozialer Hintergründe, Einstellungen und Vorlieben, sich in einer gemeinsamen Gesellschaft aufgehoben fühlen. Auf Anti-Nazi-Demos gehen, um den klassischen Gegnern dieser Ideale die Stirn zu bieten? Damit setzt man ein wichtiges Zeichen gegen Rechtsextremismus, aber ob man damit dazu beiträgt, Menschen umzustimmen, ist fraglich. Viele engagierte Menschen konzentrieren sich stattdessen auf das Positive, statt auf das Feindbild, organisieren Events und Gruppen, die den Zusammenhalt und Einfluss derer stärken, die an eine offene und bunte Gesellschaft glauben. All das ist wichtig und gut. Nur: Geht das weit genug? Laufen nicht viele dieser Ansätze auf das Gleiche hinaus, nämlich auf eine Etablierung eines Feindbilds und einer internen Gruppenidentität und damit auf eine umso stärkere Spaltung der Gesellschaft? Es muss doch auch etwas zwischen Freunden und Feinden geben, etwas zwischen sich bestärken und bekämpfen.
Der Verein „Frühlingserwachen“ hat eine Antwort darauf, was das sein könnte: Der Dialog mit denen, die erstmal weder Freunde noch Feinde sind. Dialog mit Fremden. Mit Andersdenkenden. Mit zum Teil-Andersdenkenden. Mit Unverstandenen. Mit den Menschen, die man täglich auf der Straße sieht, aber nie kennenlernt. In seiner Neutralität hat dieser Ansatz trotzdem seine politische Dimension.
Frühlingserwachen, zu Beginn noch eine studentische Initiative der Zeppelin Universität, und nun ein Verein mit steigenden Mitgliederzahlen, ist im Frühling 2016 ins Leben gerufen worden, als die AfD mit 15,1 % in den Baden-Württembergischen Landtag einzog, und klar wurde: Es ist Zeit, zu erwachen und sich dem zu stellen, was die Menschen bewegt und was falsch läuft. Das Projekt ist noch lange nicht am Ende: Unter dem Motto „Gemeinschaft kann nur vor Ort und aus Vielfalt entstehen“ ist letzte Woche wieder der „Frühstücksbus“ des Vereins durch Friedrichshafen und Umgebung gefahren. Das Team von Frühlingserwachen hat Vorbeilaufende auf Gespräche und Kaffee eingeladen. Nach ersten „Wofür werbt ihr denn nun wirklich?“-Fragen lief das wirklich gut und viele Menschen fanden miteinander ins Gespräch.
Die Geschichten, die sonst hinter Anonymität verbogen bleiben, waren vielfältig. Ein älterer Herr namens Wolfgang erzählte mir zum Beispiel, wie er in jungen Jahren eine Frau geheiratet hatte, die in dann betrog, moralisch erpresste und ausbeutete. Aufgrund eines gemeinsamen Kindes war er immer verpflichtet, sie finanziell zu unterstützen, was seine Motivation, Geld zu verdienen, deutlich senkte. Denn dann blieb für ihn kaum mehr übrig, als das, was er an Arbeitslosengeld bekäme. Heute bekommt Wolfgang eine geringe Rente. Er sieht ein, dass das seine eigene Schuld ist, fügt aber hinzu: „Man muss immer die Geschichten der Menschen mitdenken, um zu verstehen, wie sie in eine Lage hineingekommen sind.“
Dieser Satz hat auch ein neues Licht auf mein nächstes Gespräch geworfen, mit Peter, einem Obdachlosen. In seinem alten Job wurde Peter von seinen Arbeitgebern betrogen und sah keine andere Wahl, als zu kündigen. Er sucht Arbeit, sagt aber, dass das Wort obdachlos zu negativ konnotiert sei. Im Sommer konnte er noch sagen, er mache Urlaub am Bodensee mache und trage deshalb diesen Rucksack, aber bei dem Wetter glaube einem das niemand mehr.
Eine auch sehr berührende Geschichte stammt von Friederike aus meinem Semester, die mit einem Syrer sprach, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt und ihr erzählte, er habe gerade das erste Mal mit Deutschen gelacht und gequatscht. „Sehr traurig und sehr schön zugleich“, hat Friederike die Begegnung wahrgenommen.
Neben vielen wirklich schönen Gesprächen, bei denen man gemerkt hat, wie gut es den Menschen tat, ihre Geschichten und Ängste zu teilen, gab es auch die befürchteten „schwierigen“ GesprächspartnerInnen. Beispielsweise eine Frau, die Geflüchteten die Schuld für ihre geringe Rente zuschob. Durch das Zuhören wurde klar, dass sie sich auf Grund ihrer eigenen Geschichte in einer Zwickmühle aus Selbstmitleid und trotzigem Stolz befand. Es schien so, als habe sie nie jemanden gehabt, mit dem sie ihre Wut über ihr eigenes Schicksal teilen konnte. Während andere mit ähnlichem Schicksal Hoffnung durch andere Menschen oder Projekte fanden, schien sie sich über Jahre komplett verschlossen zu haben. Auch, wenn ein einziges Gespräch solche sich über Jahre verfestigten Dynamiken nicht komplett lösen kann, war es vielleicht eines der ersten Gespräche, welches die Frau wirklich berührt hat und damit das Potential hat, etwas zu ändern. Kleine Einsichten und Öffnungen waren schon im Gesprächsverlauf bemerkbar – auch Dank der Kommunikationstechniken des Teams.
Denn dass Menschen sich einfach so vor Fremden öffnen und ihre Standpunkte tatsächlich ändern, ist nicht selbstverständlich. Im Voraus der Frühstücksbuswoche gab es deshalb verschiedene Vorbereitungstreffen und -workshops für die Frühlingserwachen-Mitlieder, welche – so kann ich zumindest aus eigener Erfahrung sagen – wirklich viel geändert haben.
Ein Workshop, an dem ich teilnahm, wurde von dem Kommunikationsberater Frank Labitze von „ePunkte“ geleitet. Zu Beginn des Workshops konnten die TeilnehmerInnen sagen, vor welchen Situationen sie Angst hätten. Für mich wäre so eine schwierige Situation, wenn jemand rassistische, pauschalisierende Aussagen macht. Wie kann man damit umgehen, ohne sich sofort zu bekriegen? Man will solche Aussagen ja nicht einfach so stehenlassen oder das Gefühl vermitteln, sie seien gerechtfertigt.
Frank schlug vor, dass man den Menschen einen Spiegel vorhalten und gleichzeitig Interesse an „ihrer Landkarte“ zeigen solle. In der konkreten Situation, das heißt, wenn man mit einer schwierigen Aussage konfrontiert wird, widerholt man zuerst einmal die Aussage in eigenen Worten und schreibt sie der Person zu („Sie meinen also, dass?“). Dann redigiert die Person die eigene Aussage oft selbst oder versucht, sie näher zu begründen, ohne sofort in eine Abwehrhaltung zu gehen. Im zweiten Schritt solle man, so sagte es uns Frank, offene Fragen stellen (zum Beispiel „Welche Erfahrungen haben Sie persönlich damit gemacht?“ oder „Wie gehen Sie damit um?“). Man müsse die „Hebammenkunst“ anwenden, das heißt, metaphorisch gesprochen, nicht selbst das Kind bekommen, sondern nur der anderen Person dabei helfen, es zu bekommen. Es erscheint erstmal einfacher, dem Gegenüber die eigene Meinung aufzudrücken; es kostet Überwindung, einer Aussage, die man nicht akzeptieren kann, erstmal nicht direkt zu widersprechen. Zuerst dachte ich, die Methoden seien zu lasch, zu tolerant, aber das hat sich im Laufe des Workshops und durch die Erfahrung in den Gesprächen schnell geändert: Dies ist wahrscheinlich der Weg, mit dem man am ehesten Menschen wirklich erreicht und mit dem man am weitesten kommt. Dahinter steht die Idee der „unbedingten Zuwendung“ für die GesprächspartnerInnen. Manche Menschen haben unbedingte Zuwendung vielleicht nie erfahren und erst später merkt ihr Umfeld die Folgen. In den von Frank zitierten Worten Steven Coveys bedeutet dieser Ansatz: „Erst verstehen, dann verstanden werden“.
Das Konzept scheint zu greifen, denn immer mehr Menschen sind von Frühlingserwachen begeistert und haben den Ansatz des Vereins verinnerlicht, wie Lena, eine der Vorsitzenden, feststellte. Auch David, der den Frühstücksbus dieses Jahr mitorganisiert hat, erzählt, dass viele Menschen, die zu Gesprächen eingeladen wurden, in Zukunft bei mehr Veranstaltungen von Frühlingserwachen dabei sein möchten.
Das ist sehr schön und gibt Hoffnung in einer Zeit, in der die AfD es nun auch noch in den letzten Landtag Deutschlands geschafft hat. Es wird Zeit, neue Wege gegen Vorurteile, Ignoranz und Rassismus zu gehen. Frühlingserwachen macht vor, wie das gehen könnte – hoffentlich bald auch an noch mehr Orten.
1 Comment