Die Musik des Jahres 2017 war ermüdend – aber dann kam “Superlative Fatigue”. Eine akzelerationskritische Liebeserklärung an des besten Albums des vergangen Jahres
Beim Überfliegen der Musik, die ich mir dieses Jahr so angehört habe, fällt mir auf: das ist wahrscheinlich das erste Jahr, seitdem ich angefangen habe zu viel Musik zu hören, über das ich nichts sagen, geschweige denn schreiben könnte. Gut: Soundcloud-Rap ist nun vollends im Mainstream angekommen und feiert Chart-Erfolge, die Dancehall-Beat-Welle hat vom Mainstream bis in den tiefsten Underground jeden Produzenten erreicht, und Deutschrap hat mit 102Boyz endlich wieder eine Crew, die sich mit den Absoluten Beginnern in ihren besten Zeiten messen kann. Das alles braucht man nicht großartig zu analysieren und vieles davon lässt sich höchstwahrscheinlich darauf zurückführen, dass die Charts der vorherigen Jahre verdammt voll mit düsteren oder depressiven Liedern waren und wir mal wieder was brauchten, was wirklich Spaß macht.
Aber dann, gerade als ich über all das nachdenke, bleibt mein Blick an einem bunten Cover hängen: Errorsmiths “Superlative Fatigue”. Kein Album hat mich beim ersten Hören schon so gepackt. Und es ging nur mich so: Superlative Fatigue wurde von so ziemlich jeder Musikpublikation besprochen und angepriesen. Einige Wochen nach Erscheinen probierte ich auf einer Hausparty in Friedrichshafen ein paar von den Tracks aus. Das gleiche tat – interessanterweise zeitgleich – Dixon im Berghain. Dixon und waren uns denke ich mal einig, dass unsere Wahl ein voller Erfolg war. Einige Wochen später schloß ich in Prag Freundschaft mit einem Italiener. Ich saß grade in einer Bar und erklärte einem Mädchen, welche Alben des Jahres sie sich unbedingt anhören sollte, da trat er dazu: “Are you talking about the new PAN record?” Angesichts unserer Begeisterung machte meine Sitznachbarin ihm sofort Platz, damit wir Superlative über Superlative Fatigue austauschen konnten. Das Album war ein Ereignis, das einzige musikalische Ereignis, über das ich 2017 wirklich reden konnte. Denn wie Benjamin Eckman Bieser in seiner Review zu Superlative Fatigue schreibt: das Album ist ein wichtiger Beitrag, da es eine menschliche, verständnisvolle und liebenswürdige Alternative zu der Akzeleration entwirft, die uns erfasst hat. Darauf weist auch schon der Titel hin. Superlative Müdigkeit.
Mit einer menschlichen Alternative zur Akzeleration ist hier eine Alternative zu der unmenschlichen Akzeleration gemeint, die der Philosoph Nick Land beschreibt. Stark vereinfacht ausgedrückt kombiniert Nick Land in seiner Theorie das Deleuzsche Begehren und den Freudschen Todestrieb, um einen beschleunigenden Antriebsmechanismus zu beschreiben, der er dann der Maschine, dem un-menschlichen zuschreibt. In Lands Theorie sind die Menschen nur die organischen Anhängsel einer virulent-nihilistischen, mechanischen Akzeleration, die hinter den Maschinen der Postmoderne hinterhergezogen werden, ähnlich wie Verurteilte in längst vergangenen Zeiten hinter Pferde gespannt und so zu Tode geschleift wurden. Längst hat die Entwicklung der Algorythmen, der Maschinen, des Kapitals uns überholt. Der Mensch hat nachgelassen. Die menschlichen Konsequenzen jener Entwicklung beschreibt Byung Chul Hans “Müdigkeitsgesellschaft”, noch besser aber trifft sie Franco “Biffo” Berardi. Der schreibt schon lange von einer Gesellschaft, die von den von ihr angestoßenen Revolutionen überrumpelt wurde. Unser psychisches und gesellschaftliches System ist nicht dem Universum der zirkulierenden Botschaften entsprechend moduliert. Wir sind überfordert angesichts der Reize und Informationen, die auf uns einprasseln. Das korrespondiert mit Lands Theorie: es ist nicht so, dass das wir einen tatsächlichen Zugang zum Cyberspace erlangen, weil wir angesichts des Cyberspaces nur in den Modus unverständliche Überforderung bis hin zum Burnout zurückfallen können. Vielmehr hat der Cyberspace Zugang zu uns, während wir uns in einem Verhältnis “taktiler Kommunikation”, wie Baudrillard es nannte, befinden, in dem unsere spontane Antwort auf Reize, unsere erweckte Aufmerksamkeit und unser Click-Drive verwertet werden. Hinzu kommen die für diesen Kapitalismus spezifischen und paradigmatischen Arbeitsverhältnisse, die höchst flexibel, kreativ und konnektiv sind – also in letzter Instanz ermüdend. Waren die großen Manager des Industriezeitalter noch daran interessiert, die Ermüdung ihrer Angestellten zu verhindern, geht es heute im Post-Industriellen Zeitalter darum, sich zu verausgaben – Pardon: sich zu “verwirklichen”. Ein Album über Müdigkeit ist also angebracht. Wer ist denn nicht müde? Und wer hat noch Lust auf Akzeleration?
Errorsmith macht wieder Lust auf Beschleunigung, weil sein Akzelerationismus vor allem Spaß macht. Die ersten 5 Tracks des kurzen Albums sind Hits, die einfach Laune machen. Sie haben treibende Rhythmen sowie interessante Samples, Synths und Sounds. Großartige Club-Banger eben. Interessant wird es ab dem 5. Track, dem Titeltrack “Superlative Fatigue”. Der offensichtlichste Dancefloor-Killer treibt den Hörer nochmal auf die Spitze der Ekstase und der Verausgabung. Daraufhin begegnen wir einem in Rente gegangenen Server, der uns den coolsten Track des Albums vorspielt, uns etwas zur Ruhe kommen lässt um uns dann dem “Internet of Screws” entgegenstellt. Hier hören wir Synthesizer, die sich mit jedem Kick ein bisschen in Tonhöhe und Tempo steigern, aber dann sofort wieder abschlaffen, wie ein Motor der nicht mehr ganz anspringen will. Und dann sind wir beim Schlusstrack: “My Party”. Hier hören wir das ermüdete Subjekt, ausgespuckt nach der aufregenden Achterbahnfahrt, wie es mit letzter Kraft vor sich hinsummt: “Party, My Party.” Wie ein betrunkener Partygast, dem am Ende noch ein Song im Ohr geblieben ist, den er jetzt stammelt. Hier wird Errorsmith menschlich und verständnisvoll. Anstatt wie die Land’sche Maschine den Menschen als organisches Zivilopfer bis ins Post-Humane zu treiben, lässt uns Errorsmith vom Haken und weiß, wann Schluss ist. Diese Erschöpfung, die in einer seichten Müdigkeit endet, ist dem Hörer gestattet – nicht als affektive Arbeit im Wellnesparadies, sondern als menschenfreundliche Alternative zur panischen, prekären, chaotischen und verunsichernden Wachheit. Peter Handke schreibt in seinem Versuch über die Müdigkeit: „Die Müdigkeit gibt den Verstreuten, dem prekären Einzelnen den Takt.” In der Müdigkeit gibt es „keine Gier mehr, kein Greifen mehr in den Händen, nur noch ein Spielen.“ Vor diesem Hintergrund erscheint ausgerechnet die Party-Platte des Jahres als großes Plädoyer für die Müdigkeit.