Abschied in der Beschleunigung

via yourmechanic.com

Nach dem Tod des Philosophen Paul Virilio steigt Felix in seinen VW Sharan – und nimmt uns mit auf eine Spritztour quer durch die Gedankenwelt des großen Geschwindigkeitstheoretikers.

Der große Denker der Geschwindigkeit, Paul Virilio, ist tot. Die Moderne hat einen ihrer schärfsten Skeptiker verloren, einen höchst eigenwilligen Denker, der die Geschwindigkeit als treibenden Motor hinter allem sah und diesen Ansatz (seine sog. “Dromologie”) gnadenlos zu Ende dachte, egal ob es um Politik, Geschichte oder Soziologie ging. In den letzten Jahren war es still geworden um Virilio. Er lebte zurückgezogen an der französischen Küste, ohne Internet, scheute Fernsehen, all die Motoren hinter der Beschleunigung der Moderne.

Als ich von Virilios Tod erfahre sitze ich am SMH-Campus in einem Kurs. In der Pause verlasse ich den Kurs verfrüht und setze mich in das Vehikel meiner Wahl – einen VW Sharan. Und dann, dem Titel eines von Virilios großen Essays gemäß, Fahren, Fahren, Fahren… Langsam beschleunige ich am Berg zum FAB und die Straße, die das Territorium, welches SMH und FAB trennt, einkerbt, einteilt, zerschneidet und mein Auto zu dessen Geschwindigkeit befähigt, trägt mich voran. Alles was nicht Straße ist verwischt hinter dem Autofenster. Während ich beschleunige brummt mein Sharan auf, es brummen die Pferdestärken – Pferde, einst die großen Beschleuniger, dienen nun bloß noch als Beschleunigungseinheit, sind vollkommen überholt. Überholt von der Eisenbahn, überholt von dem Auto, dem Flugzeug, schließlich von den digitalen Informationsnetzwerken, die unsere Welt in ein Zeitalter der Gleichzeitigkeit gestürzt haben, in dem die Ereignisse keine Zeit und keinen Ereignisort haben um stattzufinden, in dem es nur noch die ewige Gleichzeitigkeit der digitalen Kommunikation gibt. Hier kommt die logistische Moderne ganz zu sich, indem sie das Territorium abschafft. Der Panzer, der über jedes Gelände fahren kann wird abgelöst vom Flugzeug, das das Territorium unter sich lässt, bis schließlich die satellitenvermittelte Kommunikation die Geographie vollkommen hinter sich lässt. Von nun an sind unsere Kommunikations- und Transportmedien ohne Zeit, ohne Territorium und ohne Geräusch. Ich bin immer wieder froh darüber, dass mein alter Sharan noch die guten alten Bewegungsgeräusche von sich gibt und nicht schweigt wie die Elektroautos und ICEs. Die Bewegungsgeräusche versichern mir, dass es immer noch eine Bewegung gibt, eine Distanz, ein Territorium zwischen SMH und FAB, dass all dies noch nicht verschwunden ist.

Das galoppierende Pferd, der Zug, mit dem Leo Trotzki zwischen den Bürgerkriegen der Oktoberrrevolution hin- und herreiste, die Kampfflugzeuge und nun die surrenden, unsichtbaren Drohnen – die Fortschrittsgeschwindigkeit der Geschichte wird von der Entwicklung der Waffensysteme vorgegeben. Die Form und Geschwindigkeit der Vehikel war stets entscheidend für den kriegerischen Konflikt und dessen Ausgang, d.h. auch für die Macht, die durch einen Sieg errungen wird und für die Geschichte, die der Sieger schreibt. Geschwindigkeit ist Macht. Das gilt sowohl für Machtkämpfe auf dem Markt als auch auf dem Schlachtfeld. Wenn Virilio von Vehikeln und Kommunikationsmedien schreibt und von den Verhältnissen unbarmherziger Geschwindigkeit und Transparenz, denen sie uns aussetzen, dann führt er diese meist über Verweis auf ihre kriegerische Verwendung ein und zeigt so die ständige Komplizenschaft zwischen Medien und Macht.

Ich stehe nun vor der White Box, als Raucher hier fixiert, und starre durch die Scheiben auf die Arbeiten der Gruppe Forensic Architecture. Virilio würde hier wahrscheinlich auf die geheime und ungewollte Komplizenschaft zwischen den Kriegsverbrechern und den Ermittlern hinweisen. Hier werden von beiden Seiten digitale Medien eingesetzt, um ein zu dominierendes Territorium zu überbelichten und einer totalen Transparenz auszusetzen. In den dominierten Territorien des mittleren Osten setzt der westliche Hegemon die abtastende Aufklärungkamera der Drohnen als Waffe ein, während die Drohnenpiloten in ihren Kontrollzentren bleiben. Die “Feinde” dieses “neuen Krieges” sind nun in ihrem Territorium fixiert und einer orbitalen Überwachung ausgesetzt, die nicht länger an die Dimensionen von Territorium und Zeit gebunden ist. Kann man hier nicht Parallelen zu der Herangehensweise von Forensic Architecture erkennen? Kann man sich nicht eine Zukunft vorstellen, in der zuerst die Aufklärungsdrohnen der Kriegsverbrecher auftauchen und dann die Bombendrohnen kybernetisch-kalkulierte Explosionen bewirken, woraufhin die Drohnen der Menschenrechtler auftauchen, um die Überbelichtung des dominierten Territorien voranzutreiben? Und leben wir nicht auch schon längst unter der selben militärischen Überwachung, im ständigen Ausnahmezustand, in dem wir an allen logistisch relevanten Orten, vom Flughafen bis hin zum Bahnhof als potentielle Gewalttäter behandelt werden? Indem Virilio alle logistischen Supervisionsmittel auf ihren kriegerischen Gebrauch zurückverfolgte, konnte er die so beängstigende wie prophetische These aufstellen, dass wir uns in einem permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand befinden.

Trotz alledem war Paul Virilio war nie ein Fortschrittsverweigerer, er war auch kein New-Age-Entschleuniger. Virilio schlug nie vor, sich die Zeit zu nehmen an Rosen zu schnuppern oder die eigene Bewegungsgeschwindigkeit auf Schritttempo zu reduzieren. Virilio war Fortschrittsskeptiker, ein Zweifler an der Ideologie des Fortschritts, an der Idee, dass alles besser wird, wenn die Dinge nur glatter, widerstandsloser und dadurch schneller ablaufen. Ein solcher blinder Fortschrittsglaube würde all die Gefahren übersehen, die ein sich ständig akzelerierendes globales Kommunikationsnetz mit sich bringen würde. Jede neue Technologie produziert für Virilio einen neuen Unfall. Das Flugzeug den Flugzeugabsturz, das Auto den Autounfall etc.Die Technologien des medialen globalen Kapitalismus allerdings bergen in sich das Potential, den ersten globalen Unfall auszulösen – einen globalen Crash, vielleicht einen finanziellen, vielleicht einen ökologischen, wer weiß. Leider tendiert unsere Kultur der Geschwindigkeit dazu, jeden beschleunigenden Fortschritt unreflektiert hinzunehmen – und so passiert es, dass man in Gedanken an diesen großen Denker versunken versucht, einen Fünf Euro-Schein in das neue Kartenladegerät am FAB zu stecken und feststellen muss, dass dieser nur Karten nimmt. An der ZU also auch: der Kult der Geschwindigkeit. Das Bargeld ist zu widerspenstig-materiell, seine Zirkulation ist zu langsam. Lang lebe die Gleichzeitigkeit der digitalen Finanzströme, lang lebe die absolute Geschwindigkeit – zumindest bis zum nächsten Crash.