“Unsere Welt ist schnell, die Menschen in ihr gehetzt. Doch seit Ausgangssperren, Kontaktverbote und Ladenschließungen unseren Alltag bestimmen, scheint es als würde sie sich wieder etwas langsamer drehen. Zeit sich damit auseinander zu setzen, was die überhöhte Geschwindigkeit unseres Seins mit uns macht. Und was es vielleicht für Alternativen dazu gibt. Genau damit beschäftigt sich die Reihe „slow movement“, die sich dem Thema Entschleunigung befasst.”
Ich sitze an einem lauen Märzabend vor dem Fernseher. Vor mir lachen mich die Pralinen von meinem Geburtstag an, Chips vom letzten Spieleabend sind auch noch offen und die Gummibärchen haben ihren Weg praktisch von selbst auf den Couchtisch gefunden. Ein heiteres, buntes Treffen aus Farben, Formen und Konsistenzen, welches darin endet, dass ein Großteil der Party in meinen Magen verlegt wird. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn eine Kombination aus Zucker, Fett und einem kohlensäurehaltigen Getränk führt schon bald zu Bauchschmerzen und – entschuldigt die Details – Blähungen. Von meinem selbstverschuldeten, heraneilenden Unheil noch nichts ahnend, betrachte ich das Ensemble vor mir und nicke zufrieden. Ja, genauso hatte ich mir meinen entspannten Filmabend vorgestellt. Ich nehme die Fernbedienung in die Hand und drücke auf „Play“. Julia Roberts flimmert – nein flaniert – über den Bildschirm und der Film „Eat, Pray, Love“ beginnt. Und während mir von frischer italienischer Pizza vorgeschwärmt wird, greife ich beherzt in die Chipstüte.
Die Mitglieder der Slow-Food-Bewegung würden bei meinem Anblick wohl den Kopf schütteln.
Kein Wunder, schließlich entspreche ich damit wohl dem Bild eines Konsumenten, das nicht ihren Vorstellungen entspricht. Die Bewegung wurde 1986 von dem Italiener Carlo Petrini und seinen Mitstreitern in mitten der Weinberge des Barolo als „Agricola“ gegründet. Ein Haufen von Leuten, die den Genuss von Lebensmitteln fördern wollten. Befeuert wurde die Bewegung anfangs vor allem durch die Eröffnung eines McDonalds auf dem „Piazza Navona“ in Rom, der von antiken und barocken Gebäuden umgeben ist. Demonstrativ veranstaltete die Agricola-Bewegung ein öffentliches, traditionelles italienisches Essen auf der Spanischen Treppe in Rom, um zu zeigen, dass sie diese Platzierung einer Fastfoodketten-Filiale für einen Affront hielt. Ist das ein Zeichen dafür, dass Agricola, die 1989 in Slowfood umbenannt wurde, eine Gegenbewegung zu Fast Food ist? Nicht unbedingt, meint Lea Leimann, die im Vorstand von Slow Food Deutschland sitzt. In Slow Food würde sich zwar eine Ablehnung von Fast Food wiederspiegeln, aber das würde sie nicht automatisch zu einer Gegenbewegung machen. „Es geht viel mehr um das Bewusstsein, um die Wertschätzung von Lebensmitteln, es geht darum, dem Lebensmittel Zeit zu geben. Und sich bewusster zu werden über die Konsequenzen, die es hat, wenn man bei McDonalds einkauft. Bei einem großen Konzern, der sich kein bisschen darum schert, wie es den Tieren geht, wie die Sachen verarbeitet werden. Was das für Auswirkungen hat.“
Mit der Zeit bildeten sich immer größere und vernetzte Strukturen von Slow Food und heute hat die Bewegung weltweit etwa 100.000 Mitglieder, organisiert in 1.500 sogenannten Convivien – Kleingruppen. Über Deutschland verteilt, gibt es insgesamt 85 dieser kleinen Gruppen, welche sich über verschiedene Netzwerke organisieren. Auch eine Philosophie hat sich herausgebildet, die das, was Lea Leimann beschreibt in drei Worten präzise auf den Punkt bringt. Sie lautet: „Gut, sauber und fair.“
Was bedeutet das konkret?
Gutes Essen sollte nicht nur gesundheitlich einwandfrei sein, sondern frisch und so schmecken, dass es „die Sinne anregt.“
Ich werfe einen Blick auf die Inhaltsliste der Chips. Von hundert Gramm dieses Snacks entfällt etwa die Hälfte auf Kohlenhydrate und stolze 35 Prozent auf Fett. Dazu kommen künstliche Geschmacksverstärker, Farbstoffe – die Liste ist lang. Bei Chips ist noch relativ ersichtlich, was sich in, oder besser gesagt auf ihnen, befindet. Bei anderen Lebensmitteln hingegen können die vielen Fachbegriffe schon mal verwirren. Für manche mögen die Begriffe Lecithin und Carrageen zwar geläufig sein, für viele aber sicherlich auch nicht. Dazu kommt der Fakt, dass das was der Name verspricht, oft nicht drinnen ist. Beispiele gibt es en masse, vom Erdbeerjoghurt mit Pressspanholz anstatt Früchten bis zu „nutella“, bei der zwar „Nuss-Nougat-Creme“ angepriesen wird, faktisch aber mit 13 Prozent nur knapp das Mindestmaß des verlangten Nussgehalts für eine solche Creme enthalten ist. Und nur weil auf der Packung „funnyfrisch“ draufsteht, heißt das nicht, dass die Chips frisch sind. Genauso wenig wie die Milch, welche wir im Supermarkt erhalten frisch aus der Molkerei kommt. Manche Milch ist gut und gerne einige Wochen alt bevor sie in den Regalen der Märkte landen.
Lea Leimann ist davon überzeugt, dass bei der Bewältigung dieses Problems möglichst kurze Schöpfungsketten helfen können. Wenn man einen Bauernhof mit Milchkühen in der Nähe hat und dort die Milch kauft, weiß man, dass sie frisch ist und man kann direkt Fragen an den Produzenten des Produkts richten. Die Umorientierung auf regionale Produkte bringt natürlich gewisse „Einschränkungen“ mit sich. Eine ist, dass Produkte wie Fische oder Avocados fast unerreichbar scheinen. Doch für das Verlangen nach exotischerem Essen hat Frau Leimann eine Lösung gefunden. Wer beispielsweise auf Fisch verzichten würde, der könne diesen im Urlaub am Meer dann umso mehr genießen. Auch für den Umgang damit, dass regionales Einkaufen zwangsläufig saisonalen Konsum bedeutet hat sie eine Antwort parat. Schließlich „macht die Kreativität beim Kochen auch sehr viel aus.“ Die Auswahl wäre vor allem im Winter beschränkter, aber „man kann ebenso viele verschiedene Sachen aus Kohl machen.“ Kohlsuppe, Kohlsalat, Kohlauflauf. Kann man machen, aber irgendwo scheint es auch verständlich, dass man sich darauf nicht einlassen will. Deswegen sei es auch sinnvoll den Sommer zu nutzen und so viel es geht haltbar zu machen. Ob dass das Einkochen von Marmeladen oder Einfrieren ist, besser ist es selbstgemacht, als aus dem Supermarkt.
Der zweite Punkt der Philosophie – saubere Herstellung, ohne die Erde und ihre Bewohner zu belasten – geht mit dieser Einstellung Hand in Hand.
Wer saisonal und regional konsumiert, verursacht weniger CO2- Emissionen und durch den Verzicht auf Avocados oder Ähnliches werden Ökosysteme vor ihrer Zerstörung bewahrt, die sonst Plantagen hätten Platz machen müssen. Selbst wenn für ein Kartoffelfeld „nur“ eine Wiese mit einigen Bäumen und nicht gleich ein Regenwald weichen muss, beeinflusst die Abholzung das Ökosystem enorm. Schlimm ist dabei vor allem, dass immer größere Flächen mit Blüten für Bienen, Insekten für Vögel und sicheren Schneisen für Wild verloren gehen. Ein Kartoffelfeld zerstört dabei vielleicht nur ein spezielles Ökosystem, eine große Menge dieser Flächen bedrohen das Tier- und Pflanzenleben hingegen in größeren Dimensionen. Vergeblich suche ich auf meiner Chipspackung nach einem Hinweis darauf, woher die darin enthaltenen Kartoffeln stammen. Fehlanzeige. Wie soll ich so nachvollziehen, ob diese Kartoffeln aus meiner Nähe stammen? Wen kontaktiere ich, wenn ich mich versichern möchte, dass im Zuge des Anbaus der Kartoffeln auf die Ökosysteme Rücksicht genommen wurde?
Der philosophische Kreis von Slow Food schließt sich mit der „fairen“ Herstellung und dem Handel von Lebensmitteln.
Auch dieser Aspekt ist wesentlich leichter zu überprüfen, wenn man lokal einkauft. Wenn ich dem Traktor, der die Kartoffeln aus der Erde hebelt selbst hinterher laufe, weiß ich, dass dafür niemand ausgenutzt wurde. Wohingegen meine Chips auch in diesem Punkt versagen. Natürlich steht nicht auf der Verpackung, welchen Lohn die Erntehelfer erhalten haben, ob sie genügend Pausen machen dürfen oder ob ihre Rechte genügend Beachtung finden.
Ich stehe auf und trage die Chipstüte in die Küche. Dort werfe ich sie demonstrativ in die Mülltonne. Der Rest der Süßigkeiten folgt. Stattdessen hole ich mir erst mal Gelbe Rüben, Minitomaten und Gurken aus dem Kühlschrank.
Denn im Gegensatz zu Julia Roberts im Film, die sehr glücklich mit sich zu sein scheint, auch wenn sie auf ihrem schlemmenden Weg durch Italien so viel zugenommen hat, dass sie sich neue Hosen besorgen muss, fühle ich mich aufgeblasen und äußerst unwohl. Ich fühle mich wie einer der fett gewordenen Menschen aus dem Film Wall-E, die sich nur noch mit Rollatoren fortbewegen können. Wird unsere Welt irgendwann so aussehen? Vollgefressen bis zum geht nicht mehr?
Vermutlich nicht alle. Denn es wird immer Menschen geben, die sich gerne bewegen und die sich gesund ernähren. Auf der anderen Seite gibt es aber auch heute schon mehr als genug Menschen auf der Welt, die stark adipös sind. Im Jahr 2014 waren ca. 1,9 Milliarden Menschen auf der Welt übergewichtig, 600 Millionen davon waren stark übergewichtig – sprich adipös. Das entspricht etwa 8% der Weltbevölkerung. Doch auch nicht übergewichtige Menschen – zu denen ich mich zählen darf, ernähren sich keineswegs gesund. Für viele sind gesüßte, künstliche und fertige Lebensmittel von der Ausnahme zum Alltag geworden.
In unserer Welt, die immer lauter nach Effizienz und Schnelligkeit krakelt, hat kaum noch jemand Zeit und Muse etwas selbst herzustellen.
Keine Zeit, um zuhause einen Kaffee zu machen? Ach, der bei McDonalds auf dem Weg zu Arbeit ist doch so oder so billiger. Keine Lust selbst in der Küche zu stehen und Marmelade einzukochen? Kein Problem schließlich gibt es dutzende verschiedene fertige Marmeladen im Supermarkt. Job, Kinder, Hobbies und das Abendessen herzurichten lassen sich schlecht vereinbaren? Wozu gibt es lieferando.de und all die anderen Lieferketten. Irgendjemand wird schon mit einem Kasten auf dem Rücken angeradelt kommen und das Essen warm vor der Tür absetzen.
Dass im Kaffee Unmengen an Zucker versenkt wurden, um über den laschen Geschmack des Wassers mit etwas Kaffee hinwegzutäuschen, ist egal. Dass in der Marmelade vermutlich vieles drinnen ist, dass sie aber noch nie ein Stück Obst gesehen hat, ist egal. Dass die Person, die das Essen vor die Tür liefert, vermutlich am meisten Aufwand in das Essen gesteckt hat, aber am wenigsten Geld für ihre Dienste erhält, dass ist egal. Hauptsache wir bekommen das was wir wollen zu bester Qualität, günstig und ohne uns groß Gedanken darüber machen zu müssen.
Lea Leimann sieht in der zunehmenden Orientierung nach finanzieller und ökonomischer Effizienz unserer Gesellschaft ein großes Problem. Grade soziale und ökologische Effizienz fielen dabei oft unter den Tisch. Das also nicht einzelne Menschen vom System ausgebeutet werden, wie Erntehelfer oder Monokulturen auf Feldern die Erde auf Dauer unfruchtbar machen. Die kurzfristige Effizienz sei zwar gegeben, aber über Nachhaltigkeit mache sich kaum jemand Gedanken.
Das man als normal sterblicher Mensch nicht immer auf alle Maxime von Slow Food achten kann ist ihr jedoch auch klar. „Es geht eben auch nicht darum, dass 1.000 Personen alles konsequent richtig machen, sondern dass alle das meiste richtig machen.“ Dabei wäre das Ziel nicht den Menschen den Genuss zu nehmen. Es gehe nur darum sich den hinter einem Produkt stehenden Prozessen und Systemen bewusst zu werden und zu reflektieren, wie man es besser machen könnte. Und es gibt durchaus Fragen, über deren Antwort man noch sehr viel nachdenken kann. Wie soll man beispielsweise Milch vom Bauern holen, wenn man in einer Großstadt wohnt? Wenn man regional und saisonal konsumiert, ist es dann nicht widersinnig einen Urlaub auf Hawaii zu buchen und dann dort den Konsum von Kokosnüssen durch die Regionalität zu rechtfertigen?
In einer globalen, vernetzten Welt, in der man so viele Möglichkeiten hat, ist das Einschränken und Verzichten oft gar nicht so einfach.
Wenn ich ans andere Ende der Welt fliegen kann, warum sollte ich nicht? Warum sollte ich auf die große Auswahl im Supermarkt verzichten? Laut Lea Leimann müsse man es einfach immer weiter probieren. Auch im Hinblick auf andere Slow-Bewegungen. „Wir müssen als Vorbild vorangehen und zeigen, dass es uns langfristig nichts bringt durch das Leben zu rennen.“ Es wäre sehr wohl möglich Entwicklungen umzulenken. Nicht nur auf der Ebene des Essens, beispielsweise auch in der Arbeit. Manche Unternehmen würden ihren Mitarbeitern mittlerweile zum Beispiel einen zusätzlichen Urlaubstag anbieten, wenn sie mit dem Zug in den Urlaub fahren. Auch die Vier-Tage-Woche wird immer salonfähiger.
Mit Phänomenen wie diesen in der Arbeitswelt beschäftige ich mich in meinem nächsten Text der Reihe genauer. Dabei soll sich alles um Slow-Work drehen.