Die Dunkelheit bricht mittlerweile schon am Nachmittag herein, der erste Schnee ist bereits gefallen und an manchen Tagen scheint sich die graue Fassade des FAB gar nicht so richtig vom Himmel absetzen zu wollen. All das sind Anzeichen dafür, dass sich das Jahr langsam dem Ende neigt – doch so richtig realisiert habe ich das bis zum ersten Dezembertag nicht. Was mich das nahende Jahresende schließlich an diesem Tag realisieren ließ, war nicht das Öffnen des ersten Türchen meines Adventskalenders, sondern das Öffnen von Spotify: „Zeit für deinen Jahresrückblick 2021“ steht groß auf der Startseite geschrieben. Schon vor Wochen hat Spotify den Jahresrückblick angeteasert – auch wenn nicht ganz so weit im Voraus wie das alljährliche Auftauchen von Lebkuchen und Spekulatius in den Supermärkten.
Der Jahresrückblick gehört auf Spotify zweifellos zum Höhepunkt des Jahres – und das aus gutem Grund. Die Neugier darüber, wer die persönlichen top fünf Interpreten und was die persönlichen top fünf Songs des Jahres gewesen sind, ist schon ziemlich groß. Vor allem dann, wenn Spotify in diesem Jahr mit einem „Zwei Wahrheiten, eine Lüge“ spielt und drei Behauptungen über die eigenen Hörgewohnheiten aufstellt, von denen man die Lüge erkennen muss. Ich war mir jedenfalls ziemlich unsicher, was die Lüge war. Daher habe ich zu lange gebraucht, um eine Antwort anzutippen, sodass die Lösung schon aufgedeckt wurde. Vielleicht war das auch gut so, denn will ich mich von einem Algorithmus wirklich eines besseren über meine eigenen Hörgewohnheiten belehren lassen?
Der Algorithmus kennt den persönlichen Musikgeschmack zumindest sehr genau. Denn neben den top fünf Interpreten und Songs präsentiert der Jahresrückblick noch weitere Statistiken: Die persönlichen Top-Genres, die Anzahl der gehörten Interpreten und Minuten, sowie die eigene „Audio Aura“ – bei mir „bold“ und „hype“. Vielleicht liegt der Ursprung dieser Statistik aber auch in der BBB-Zeit, in der ich wirklich Musik gebraucht habe, die einen ein bisschen mehr hyped als ein digitales Whiteboard mit einer Normalverteilung.
Allerdings genügt es nicht, das eigene Hörverhalten in Zahlen zu fassen. In individualistischen Zeiten muss man sich auch von anderen abheben können: Spotify sagt mir nicht nur, dass ich dieses Jahr exakt 29.548 Minuten Musik gehört habe, sondern auch, dass ich damit mehr als 81% der anderen Hörer:innen in Deutschland gehört habe. Genauso verrät mir der Jahresrückblick nicht nur meinen Lieblingsinterpreten, sondern auch, dass ich zu den treusten 2% der Hörer:innen gezählt habe. Das sind natürlich schöne Zahlen, mit denen man vor Geschwistern und Freunden angeben kann – bis man herausfindet, dass diese zu den 0,5% der treusten Hörer:innen ihres Lieblingsinterpreten gehören. Da bricht die persönliche Audio Aura direkt wieder in sich zusammen.
Beim Jahresrückblick handelt es sich insgesamt also um eine unterhaltsame Angelegenheit, die einen das Jahr auf kompakte Art und Weise Revue passieren lässt. Nicht zuletzt verbindet man – zumindest in normalen Zeiten – mit der über das Jahr gehörten Musik viele Erinnerungen an bestimmte Momente. Auf der anderen Seite ist der Jahresrückblick von Spotify eine Paradebeispiel für die zunehmende Algorithmisierung unserer Kultur: Er versucht das äußerst subjektive Empfinden von Musik zu messen und in objektiven Zahlen darzustellen, um dadurch Vergleichbarkeit herzustellen. Doch ist ein bestimmter Song wirklich mein Lieblingssong, nur weil ich ihn dieses Jahr am meisten gehört habe? Oder ist das nicht vielleicht mein Hype-Song, den ich jedes Mal anmache, wenn ich mich zu etwas motivieren will? Das gleiche gilt für die Interpreten und die Genres: Seit 5 Jahren ist LoFi angeblich mein Lieblingsgenre – das aber nur, weil ich es oft beim Lernen höre und dann ausversehen für 8 Stunden im Hintergrund weiterlaufen lasse. Diese Statistiken basieren also vor allem auf der Quantität der gehörten Musik, aber nicht unbedingt auf der persönlich empfundenen Qualität. Und solange Spotify nicht die exakte Hormonzusammensetzung meines Gehirns kennt, während ich diesen oder jenen Song höre, wird der Algorithmus auch nicht wissen, was ich bei diesem oder jenem Song fühle. Vielleicht sollte ich mir daher nochmal die Zeit nehmen, meine persönlichen, ganz subjektiven top fünf Lieblingssongs herauszusuchen und mir nicht von Spotify sagen zu lassen: „Das sind deine Top 5-Lieblingssongs aus 2021“. Der Jahresrückblick ist eine unterhaltsame Sache, keine Frage – und irgendwie gehört er mittlerweile zu einem guten Jahresabschluss auch einfach dazu. Aber ob es sich bei diesem um eine ausschließlich algorithmische Auswahl handeln muss, da bin ich mir noch genauso unsicher wie bei der Entscheidung über meine Hörgewohnheiten-Lüge.