Der Plastikraum-Eisberg

Selten hat ein Ereignis die ZU so sehr beschäftigt wie im vergangenen Fall-Semester die Geschehnisse rund um die Kunstinstallation “Plastikraum”. Nach über zwei Monaten interner Selbstbeschäftigung mit dem Vorfall dürfte das Thema den meisten zwar zu den Ohren heraushängen, aber irgendwo muss es noch einmal zusammengefasst und das argumentative Chaos im Dschungel der Statements, die sich bis Anfang Dezember in der Retrospektive präsentierten, einmal gelichtet werden. Genau das versucht dieser “Artikel” – dafür ist er dann doch etwas zu lang geworden -, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Richtigkeit, geschweige denn Deutungshoheit über die Ereignisse. Es ist lediglich der Versuch, eine einigermaßen holistische Perspektive – soweit das einem einzelnen Kopf möglich ist – auf den Vorfall und seine Nachwirkungen zu geben. Dabei wird deutlich: Der Plastikraum ist ein vielschichtiges Ereignis mit vielen Beteiligten, Meinungen und immer tiefer reichenden Folgeereignissen. Ein buchstäblicher Eisberg also. Ein immer seltener werdendes Phänomen und damit genau die passende Metapher für den Fall Plastikraum, der in seiner Eigenart sicherlich als Rarität in die Geschichte der ZU eingehen wird. Kratzen wir zunächst an der Oberfläche:

Schicht 1: Was ist eigentlich passiert?

In der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober wurde die in Raum 1.08 aufgebaute Kunst-Installation “Plastikraum” von vier mittlerweile ausgeschlossenen Mitgliedern der Initiative Ring Christlich-Demokratischer Studierender (RCDS) eigenmächtig abgebaut und beschädigt. Die Installation war Teil des studentisch organisierten Seekult-Festivals “Fluide Räume. Ein Festival für Dezentrales”, das am Folgetag offiziell eröffnet wurde. Der Plastikraum selbst wurde am vorherigen Sonntag, dem 15. Oktober, fertiggestellt und war vier Tage lang zugänglich, bevor er von den vier Studierenden abgebaut wurde. Abgebaut bedeutet in diesem Fall, dass die Baustäbe, an denen die mit Graffiti besprühten Plastikfolien befestigt waren, abmontiert sowie die Plastikfolien selbst zusammengeknüllt und im hinteren Teil von 1.08 abgelegt wurden. Gleiches geschah mit den dazugehörigen Holzstühlen der Ausstellung.

Für die folgende Empörungswelle innerhalb der ZU-Community sorgte aber nicht nur die Aktion selbst, sondern vor allem die hinterlassenen Parolen: “Reconquista Lehrräume” sowie am Eingang zu 1.08 “fiat voluntas dei” zusammen mit dem hinterlassenen Hinweis “Wieder für die Allgemeinheit geöffnet!!!”. Beide verziert mit einem Herzchen und einmal mit dem deutlich erkennbaren Verfasser “by RCDS FN” sowie einmal mit einem Geschöpf, das wohl den Bundesadler darstellen soll. 

Die hinterlassenen Parolen im ehemaligen Plastikraum (Bilder: BILD)

Schicht 2: Was war eigentlich der Plastikraum?

Aufgrund dieser Parolen wurde schnell der Vorwurf des Rechtsextremismus laut und die politische Dimension war die erste, die nach dem Vorfall aufgemacht wurde. Dabei lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Dimension des Plastikraums selbst zu werfen. Was sollte dieser eigentlich aussagen?

Zunächst zum Schaffensprozess. Der Künstler hinter dem Plastikraum, Stefan Inauen, beschäftigt sich in seiner Kunst oft mit “Nicht-Räumen”. Das sind anonyme, funktionale Räume, die im Alltag unbeachtet bleiben, wie zum Beispiel Flure oder auch Toiletten. Ihm geht es in seiner Arbeit darum “Räume so zu gestalten, dass sie zu Aufenthaltsräumen werden”, wie er im Künstlergespräch eine Woche nach dem Vorfall erzählte.

An Raum 1.08 reizte ihn, dass es ein sehr statischer Lehrraum war, in dem nichts beweglich und “nichts möglich” war. Sein Ziel: ein “Aquarium im Aquarium” zu schaffen. Als Gegenentwurf zur geordneten Statik von 1.08 setzte er daher bei der Gestaltung des Plastikraums auf das “Potential des Affekts aus dem Inneren”. Das Mittel der Wahl war daher das Graffiti, das sehr impulsiv aufgetragen werden kann. Der Akt des Sprayens als affektiver Moment.

Dazu stellte er eine Gruppe von sechs ZU-Studierenden zusammen, die mit ihm einfach drauf los sprayen sollten – ohne Regeln, ohne Persönlichkeit. So entstand eine “magische Atmosphäre”, die er so noch nie erlebt habe. Das Ergebnis nach wenigen Minuten Sprayen: der Plastikraum. Ein Werk, das die bekannten 1.08-Einkerbungen auflöste. Die Plastikfolien schufen einen neuen, glatten Raum, der durch die Affekte der ZUlerinnen und ZUler neu besetzt wurde.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es beim Plastikraum nicht um Politik ging. Wie so oft in der Kunst zielte er in seiner Botschaft konkret auf den Einzelnen, auf das Individuum – und nicht auf eine breitere politische Ideologie. Dem Künstler Stefan Inauen ging es darum, den Einzelnen dazu zu bringen, sein Verhältnis zum Raum zu hinterfragen: “Einen Raum im Raum zu schaffen, der einen völlig aus dem äusseren Raum herauswirft. Man findet sich ganz woanders wieder – eine Entrückung”.

Der “Plastikraum” nach seiner Fertigstellung (Bild: @seekultfestival)

Schicht 3: Was trieb die Täter eigentlich an?

Die vier Studierenden waren bei den zahlreichen Veranstaltungen zur Aufarbeitung des Vorfalls entweder nicht anwesend oder meldeten sich nicht öffentlich zu Wort. Auch eine Bitte um ein schriftliches oder mündliches Interview für diesen Artikel wurde abgelehnt. Daher kann im Folgenden nur spekuliert werden:

Offensichtlich hat der Plastikraum seinen Zweck nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen. Die vier Studierenden fühlten sich in ihm so entrückt, dass sie das Bedürfnis verspürten, ihn wieder abzubauen – die Entrückung rückgängig zu machen. Sie hätten die Intention der Entrückung, des Infragestellens, missverstanden, hieß es in ihrem am nächsten Tag veröffentlichten Statement. Den hinterlassenen Parolen nach zu urteilen verstanden sie den Plastikraum als metaphorische ‘Besetzung’ des Lehrraumes 1.08, die zugleich einen exklusiven Zugang impliziere. Anders lässt sich der Hinweis “wieder für die Allgemeinheit geöffnet” kaum erklären, wenn nicht aus dem Gefühl der Plastikabreißer heraus, dass der Plastikraum nie für die ‘Allgemeinheit’ bestimmt gewesen sei. Auch wenn die Stellungnahme in der ZU-Facebook-Gruppe heftig zerpflückt wurde, dürfte dennoch ein Fünkchen Wahrheit in ihr stecken.

Kritischer wird es bei den Slogans, die den Aufhänger der Debatte bildeten. Auch hier kann über die Intention nur spekuliert werden. Beginnend mit dem weniger kritischen “Fiat voluntas dei”, für Nicht-Lateiner: “Gottes Wille geschehe”. In einem Gespräch zwischen den Tätern und dem Präsidium soll sich herausgestellt haben, dass dieser Spruch auf einem Flaschenöffner aufgedruckt war und sie diesen ihn in ihrem Rausch einfach übernommen hätten. In einer anschließenden weiteren Diskussion wurde von einem Seekult-Mitglied eingewandt, dass die vier Studierenden erst nach dem vierten oder fünften Nachfragen des Präsidiums auf diese Antwort gekommen seien, was ziemlich unglaubwürdig sei. Hier wird es so kleinteilig, dass Gerücht und Wahrheit kaum noch zu trennen sind und dies jeder für sich selbst einordnen muss. 

Eine sprichwörtliche Schnapsidee dürfte die Aktion trotzdem nicht gewesen sein. Die vier Studierenden gingen sehr sorgfältig vor: Baustäbe und Holzstühle waren ordentlich beiseite geräumt. Zusammen mit den besprühten Plastikfolien, die allerdings zerknüllt und nicht gefaltet wurden. Trotzdem: Es bot sich weniger ein Bild der Verwüstung als vielmehr das einer groben Demontage. Am bezeichnendsten ist wohl die Tatsache, dass die Plastikabreißer nach ihrer Aktion den Raum durchgewischt haben. Fragt man also nach ihrer Intention, so ergibt sich ein ambivalentes Bild irgendwo zwischen einer fehlgeleiteten Nacht-und-Nebel-Aktion unter Alkoholeinfluss und einer doch gut durchdachten Aktion aus eigenen Überzeugungen heraus.

Schicht 4: Reconquista und Rechtsextremismus an der ZU?

Der metaphorische Flaschenöffner für die große Empörung nach der Aktion war der Slogan “Reconquista Lehrräume”. Bevor der Versuch einer Einordnung im ZU-Kontext unternommen wird, zunächst zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffs, den die Bayrische Informationsstelle gegen Extremismus wie folgt definiert:

Der Begriff der Reconquista beschreibt eigentlich die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den maurischen Herrschern. Im 8. Jahrhundert nach Christus landeten muslimische Truppen bei Gibraltar und eroberten schnell weite Teile der iberischen Halbinsel. 722 begannen christliche Machthaber mit der heute Reconquista genannten Rückeroberung der Gebiete. Die muslimische Vorherrschaft wurde langsam zurückgedrängt und endete schließlich 1492.

Rechtsextremisten der Neuen Rechten nutzen den Begriff der Reconquista, um eine Parallele von der heutigen Zeit zum Mittelalter zu ziehen: Die angestammte Bevölkerung Europas sei durch außereuropäische Zuwanderer aus fremden Kulturen bedroht. Wenn deren Einflüsse auf Religion, Lebensweise, Sprache etc. nicht zurückgedrängt würden, sei die europäische Kultur und Identität dem Untergang geweiht.

Die spanische Reconquista endet mit der Kapitulation Granadas: Der letzte König von Granada, Abu Abdullah Muhammad XII., übergibt Granada, die letzte muslimische Hochburg in Andalusien, an den katholischen König Ferdinand II. von Aragon. (Ölgemälde von Francisco Pradilla y Ortiz, 1882)

Kritische Bedeutung erlangte der Begriff der Reconquista insbesondere in Deutschland durch das verdeckte rechtsextremistische Netzwerk “Reconquista Germanica”. Dabei handelte es sich um eine von 2017 bis 2019 bestehende Online-Community mit über 1.500 Mitgliedern auf Discord, über das sich das Netzwerk primär organisierte, sowie rund 400 identifizierbaren Twitter-Accounts. Zwar gelte das Netzwerk mittlerweile als inaktiv, ein heimliches Fortbestehen könne aber nicht ausgeschlossen werden, heißt es in einer Mitteilung des Bundestags. Dass es ausgerechnet von vier ZU-Studierenden weitergeführt wird oder diese unterschwellig auf dieses Netzwerk anspielen wollen, ist jedoch nahezu ausgeschlossen. Einen Eindruck, den auch Präsidiumsmitglied Prof. Dr. Joachim Behnke in seinem Statement schildert: “Es ist auch nicht plausibel, dass dort im Sinne des „Dogwhistling“ ein „Code“ verwendet wurde, der unterschwellig bestimmte Botschaften rechtsradikaler Natur verbreiten sollte”.

Der damit verbundene Vorwurf an die vier Studierenden, Neonazis zu sein, wurde daher relativ schnell fallen gelassen. Ja, der Slogan “Reconquista Lehrräume” kann als rechtsextreme Anspielung gelesen werden. Und diese Lesart hätte ihnen bewusst sein müssen. Viel plausibler ist jedoch die Anspielung auf das historische Moment der Rückeroberung, ironisch angewandt auf den ‘besetzten’ Lehrraum 1.08. Eine Ironie, die durch das Herzchen neben der Unterschrift “by RCDS FN” und den im Herzen eingerahmten, deformierten Bundesadler noch unterstrichen wird. Eine Ironie, die nicht unbedingt als solche verstanden wurde. Vielleicht nicht einmal von den Tätern selbst.

Es kommt allerdings hinzu, dass diese sich mit dem RCDS Friedrichshafen, in dessen Namen sie die Parolen hinterließen, identifizierten. Dieser distanzierte sich zwar umgehend von ihnen und betonte, dass es im RCDS FN weder ein Gutheißen solcher Aktionen noch eine Nähe nach Rechtsaußen – insbesondere als Initiative der ZU – gebe. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass RCDS-Gruppierungen in der Vergangenheit bundesweit durch Aktionen aufgefallen sind, die durchaus dem rechten bis rechtsextremen politischen Spektrum zuzuordnen sind. Vor diesem Hintergrund wären die Parolen weniger problematisch, wenn sie erkennbar von Einzelpersonen und nicht im Namen einer RCDS-Gruppierung hinterlassen worden wären. Auch wenn wir an der ZU im Vergleich zu anderen Universitäten in Deutschland bei weitem nicht so extreme Ausschläge im sozialen Miteinander und Fälle von mutwilliger Zerstörung haben.

Aber wir erheben auch höhere Ansprüche an uns selbst. Vergleiche mit anderen Universitäten hin oder her, die Aktion selbst macht es nicht besser. Der Plastikraum wurde unwiederbringlich zerstört. Lediglich das politische Pulverfass wird damit entschärft. Wie gesagt: Der Plastikraum war in seiner Intention nicht direkt politisch. Und mit dem Islam hatte er noch weniger zu tun. Berührungspunkte zwischen “Reconquista Lehrräume” und einem rechtsextremen, in der Realität als islamophob verwendeten Begriff der “Reconquista” lassen sich daher nur mit den bösartigsten Unterstellungen gegen die vier Studierenden herstellen. Und eine produktive inneruniversitäre Debattenkultur, wie wir sie an der ZU als Ideal verfolgen, besteht eben nicht darin, sich gegenseitig “die schlechteste und böswilligste Intention” zu unterstellen, wie Behnke schreibt, dabei aber trotzdem wach und kritisch zu bleiben. 

Schicht 5: Der mediale Backlash als Symptom der Statement-Kultur?

Tun wir dies dennoch, nehmen wir als ZU-Gemeinschaft kollektiven Schaden. Der voreilig in den Raum gestellte Nazismus-Vorwurf fand – laut studentischen Senatoren durch einen Alumnus – dann ziemlich schnell den Weg in die Überschrift der lokalen BILD-Zeitung: “Nazi-Parolen an Zeppelin Universität”. Und in die Online-Ausgabe: “Privatuni am Bodensee | Skandal um Nazi-Parolen”. Ja, es ist BILD. Ja, sie übertreiben immer. Ja, keiner nimmt sie ernst. Und doch bleibt ein Geschmäckle. Weil es im Kopf bleibt. Nicht nur bei uns, sondern auch bei potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern, bei Alumni oder sogar bei potenziellen Arbeitgebern. Das Internet vergisst nicht. Und es funktioniert auch nicht rational. Es gibt einen guten Grund, warum die BILD-Zeitung so erfolgreich ist – und das ist ironischerweise genau der, aus dem heraus der Plastikraum entstanden ist: Die Instrumentalisierung des Affekts. Da hilft die beste rationale Beschönigung “Es ist ja nur die BILD” nichts, vor allem wenn Südkurier, Schwäbische und SWR mindestens mit “rechtslastigen Parolen” titeln. 

Die Berichterstattung der BILD über den Plastikraum-Vorfall

Das Bittere für uns ist, dass das alles hätte vermieden werden können – wenn die Konfliktlösung besser funktioniert hätte. Natürlich ist das leichter gesagt als getan – im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber mitunter wäre es produktiver gewesen, erst einmal einen gemeinsamen Boden zu finden und dann – bei unüberbrückbaren Gräben – weitere Statements zu verfassen. Der Rechtsextremismus- und Nazi-Vorwurf wäre dann vielleicht gar nicht erst aufgekommen und hätte nie den Weg in die Presse gefunden. So aber geschah es in umgekehrter Reihenfolge: Erst wurden Statements mit den bekannten Vorwürfen in den Raum geworfen, dann wurde diskutiert. Die Statements drangen irgendwie nach außen und überdauerten das gesprochene Wort. Letztere mögen für die interne Aufarbeitung produktiver sein, erstere prägen aber die Außenwahrnehmung.

Dies zeugt von einer Debattenkultur, die von einer gewissen ‘Statementisierung’ geprägt zu sein scheint: Man sichert zunächst selbst – und zwar möglichst schnell – die eigene Position durch ein Statement ab. Erst dann ist man gewappnet für die Diskussion, in der es aber wenig Bewegungsfreiheit in der eigenen Position gibt, weil das Statement als argumentativer Anker fungiert. Das führt zu Debatten, die eigentlich nur simuliert sind und keine wirkliche Konfliktlösung produzieren. Das Ergebnis: Nach zwei Monaten trafen wir uns immer noch, um über den Plastikraum-Vorfall zu “diskutieren”, das heißt: uns gegenseitig mit Statements zu konfrontieren.

Das gestaltet die Lösungsfindung notorisch schwierig. Und reißt erst die Gräben auf, an deren Überbrückung wir seither arbeiten. Dass das Beben, das aus diesen Grabenkämpfen entsteht, dann auch in der Peripherie zu spüren ist und für seismografische Schlagzeilen sorgt, sollte daher nicht verwundern. Man kann die Nazi-Keule schwingen, das muss eine gesunde Debattenkultur wohl aushalten – auch wenn sie nicht die erste argumentative Waffe sein sollte. Aber wir sollten sie nicht in den Boden rammen und uns damit kollektiv selbst ins Wanken bringen. Das hilft niemandem, außer der Sensationslust der Medien.

Auflockerungsschicht 6: Was sagt eigentlich der Künstler dazu?

Es tat der Debatte sicher gut, mit dem Appenzeller Künstler Stefan Inauen eine von schweizerischer Gelassenheit geprägte Perspektive zu hören. Als er eine Woche nach dem Vorfall zum Künstlergespräch in 1.08 kam, war die Atmosphäre spürbar angespannt. Alle erwarteten, dass der Schöpfer des Plastikraums erschüttert sein würde. Dann sein erster Kommentar: “Es ist super, das zu erleben”, weil es so unvorhergesehen kam. Inauen liebt das Andere, das Experimentelle, das Überraschende. Der Plastikraum sei nicht verschwunden, sondern habe eine “Transformation auf eine andere Ebene” erfahren, was er als sehr anregend empfinde. Es habe nur die Regel gegeben, “nichts aus dem Raum zu schaffen”, und daran hätten sich die Jungs gehalten. Das Kunstwerk habe dadurch einfach andere Ausmaße angenommen, und das sei “das Schönste, was passieren kann, wenn man ein Kunstwerk macht”, so Inauen. Einzig ihre Ungeduld kritisiert er. Sie hätten mit der Aktion bis zum Ende des Seekult-Festivals warten können.

“Ein schönes großes Festival braucht ein schönes großes Kunstwerk in einem schönen großen Raum mit schönen großen Fenstern — damit es große Augen gibt und große Fragen aufwirft”

Diese durchwegs positiven, aber kontraintuitiven Sätze gehören jedoch zu Stefan Inauens rein künstlerischer Einordnung des Vorfalls. Persönlich als Künstler habe ihn die Nachricht vom Abbau “schon hart getroffen”, sagt er. Mit einer Veränderung des Plastikraumes hätte er noch besser leben können, ja er hatte sie sogar gewollt. Aber ein kompletter Abbau sei für ihn “schockierend und irritierend”. Als “dämonisch” empfand Inauen die Ordnung, mit der die Installation abgebaut wurde, was die anschliessende Raumreinigung durch die Demonteure nur bestätigte. Eine Wiederherstellung der Installation erschien ihm daher sehr künstlich und sinnlos – zumal sie auch gar nicht mehr möglich war. Also blieb er dabei: Die Installation läuft noch, sie ist noch im Raum, nur in anderer Form. “Das Schlussbild ergibt sich am Ende des Festivals”, resümierte er damals. Inzwischen wissen wir: An diesem Bild hat sich nichts mehr geändert.

Schicht 7: Die Reaktionen innerhalb der ZU-Community

Kurze Zusammenfassung
Eine detaillierte Rekonstruktion der ZU-Reaktionen ist hier kaum möglich, aber es ging Schlag auf Schlag. Innerhalb von 24 Stunden nach dem Vorfall veröffentlichte das Seekult-Team eine Stellungnahme, ebenso die Täter. Während Ersteres über den Mailverteiler alle erreichte, war Letzteres nur in der ZU-Facebook-Gruppe zu finden, wo es dann – ähnlich wie der Plastikraum – auseinandergenommen wurde. Gleichzeitig kam es zu einer Solidarisierungswelle mit dem Seekult-Team. Knapp eine Woche später luden die studentischen Senatoren zur ersten Diskussionsplattform über den Vorfall ein, an der die vier Studierenden nicht teilnahmen. Hier konnte sich im Sinne eines thematisch geschlossenen Forum Romanums jeder frei aussprechen und seine Meinung kundtun. 

Durchströmt von einer aufgeheizten Energie bot sich so ein Bild, das man nur noch aus Erzählungen kennt: Die halbe Mensa war voll mit ZUlerinnen und ZUlern, die dicht an dicht gequetscht auf den Bänken saßen. Ähnlich war es beim tags darauf folgenden Künstlergespräch im ehemaligen Plastikraum 1.08, der fast aus allen Nähten platzte. Auch wenn es kein schöner Anlass war, in dieser Woche hatte man das Gefühl: Die ZU ist wieder wach.

In der Zwischenzeit wurden weitere Statements veröffentlicht. Der RCDS distanzierte sich klar von der Aktion und den hinterlassenen Parolen und schloss die vier Studierenden umgehend aus der Initiative aus. Die Erklärung der studentischen Senatoren versuchte, die Tragweite und Bedeutung des Vorfalls einzuordnen, wobei erstmals auch der Vorwurf des Rechtsextremismus auftauchte. Die erste Stellungnahme des Präsidiums verurteilte die Aktion ebenfalls scharf, ohne jedoch eine politische Einordnung vorzunehmen, und verwies auf die Prüfung von Konsequenzen für die Studierenden. Als Mitglied des Präsidiums veröffentlichte Prof. Dr. Joachim Behnke eine weitere persönliche Stellungnahme, die den Nazi-Vorwurf gegen diese entschärfte und die vorherrschende Diskussionskultur kritisierte.

Die Debatte blieb somit zunächst intern, bis am Wochenende nach der ersten Versammlung und dem Künstlergespräch der erste Bericht des SWR und kurz darauf die Artikel der BILD erschienen. Ersterer enthielt einige Ungenauigkeiten, die die studentischen Senatoren korrigieren ließen. Danach verfassten sie einen offenen Brief – “Nichtstun ist Mittäterschaft” -, den bis dahin 162 Studierende unterschrieben hatten. Ob der Brief an den anderen knapp 600 ZU-Studierenden einfach vorbeigegangen ist – zugegeben: knapp über 70 von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt damit beschäftigt, in Vallendar den Spirit-Pokal zu gewinnen – oder ob sie sich im Sinne einer schweigenden Mehrheit nicht auf eine zugegebenermaßen durchaus extreme Interpretation des Vorfalls einlassen wollten, sei dahingestellt. Im Flurfunk war jedenfalls zu hören, dass einige die Reaktionen auf den Vorfall für zu übertrieben hielten und man sich generell nicht zu ernst nehmen solle.

Seekult 
Die Reaktion des Seekult-Teams war bereits ihrem Statement zu entnehmen. Eine der Leiterinnen des Festivals, Jil Tischer, stand auch eine Woche nach dem Vorfall für ein Interview zur Verfügung. Sie war nicht mehr ganz so schockiert, schätzte das Ausmaß des Vorfalls aber immer noch gleich ein. Er habe das Festival nicht überschattet, sagt sie. Im Gegenteil: Der Vorfall habe dem Festival auch viel Publicity gebracht und die Studierendenschaft der ZU habe sich sehr solidarisch mit dem Seekult-Festival und seinem Team gezeigt. Das zeige auch, dass die politische Wirkung von Kunst durchaus gegeben sei. Nicht nur in der Solidarisierungswelle für Seekult, sondern auch im Backlash für die Plastikabreißer. Auch wenn das Präsidium zu diesem Zeitpunkt noch keine offiziellen Konsequenzen gezogen habe, sei allein die gezeigte Reaktion der Studierendenschaft ausreichend, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern.

Ob so akut wie im Plastikraum oder eher schwelend im Untergrund, der Vorfall zeige, dass “rechtes Gedankengut an der Uni real existiert”, so Jil. Und wir müssen uns fragen, wie wir damit umgehen. Es liege an uns, mehr zusammenzuhalten und auch mal den Mund aufzumachen, wenn wir merken, “dass Freunde Bullshit erzählen”. Wir müssten unsere Werte klarer kommunizieren und auch dafür einstehen. Wo könnte man ansetzen? Die Auswahltage von PioneersWanted selektiver zu gestalten und Bewerberinnen und Bewerber gezielter auf rechtes Gedankengut zu testen, hält Jil für unrealistisch. Die entsprechenden Personen wüssten genau, wie sie ihre wahren Einstellungen in den kurzen Gesprächen verbergen könnten.

Über die Täter denkt Jil: Die Installation einen Tag vor der Eröffnung des Festivals abzubauen, zeuge von Respektlosigkeit gegenüber der Arbeit des Seekult-Teams. Und auch, dass sie glauben, “Ordnung wiederherstellen zu müssen, indem sie Kunst zerstören”. Diese Anmaßung einer Entscheidungshoheit über den Campus sage viel über ihren Charakter aus, so Jil.

Die Entscheidung des Präsidiums 
Knapp drei Wochen nach dem Plastikraum-Eklat, am 9. November – und dieses Datum ist mitunter bezeichnend für die Bedeutung dieses Vorfalls in der noch jungen Geschichte der ZU – fiel die endgültige Entscheidung des Präsidiums: “Allen vier Studenten wird eine Abmahnung ausgesprochen; weitere Fehltritte sind ihnen nicht gestattet. Zudem muss jeder von ihnen 40 Stunden gemeinnützige Arbeit für die ZU ableisten”. Damit wandte sich das Präsidium gegen die von einigen Studierenden erhobene Forderung, die vier Studierenden von der ZU zu exmatrikulieren. Dies sei unverhältnismäßig, da diese nicht nur unmittelbar in ihrer Stellungnahme, sondern auch in den anschließenden Gesprächen mit dem Präsidium Reue gezeigt hätten. Es seien auch “für das Vorliegen einer rechtsextremen Gesinnung keine belastbaren Anhaltspunkte gefunden [worden]”, auch wenn der Vorwurf sehr ernst genommen wurde. Der Plastikraum-Vorfall hat das Präsidium auch dazu veranlasst, sich in Zukunft stärker mit der Diskussionskultur an der ZU auseinanderzusetzen.

Schicht 8: Die “Allgemeinheit” spricht?

Das letzte Wort? Nein. Am 22. November ging es in die nächste Runde. Das Seekult-Team, der SVP, das artsprogram und die studentischen Senatoren luden unter dem Titel “Die Allgemeinheit spricht” zu einem weiteren Diskussionsformat ein, bei dem Studierende und Lehrende noch einmal zu Wort kommen konnten. Für Diskussionsstoff sorgte zunächst der Titel der Veranstaltung selbst, an dem sich vor allem Joachim Behnke störte. Was sage das über das Selbstverständnis der Veranstaltenden aus? Wie sich herausstellte, ein Missverständnis in der Außenkommunikation. Der ursprüngliche Titel lautete “Die ‘Allgemeinheit’ spricht” – mit “Allgemeinheit” in Anführungszeichen. Damit sollte auf die von den Plastikabreißern hinterlassene Parole “wieder für die Allgemeinheit geöffnet” angespielt werden. Leider wurden bei der Bewerbung der Veranstaltung per Mail die Anführungszeichen im Titel vergessen, so dass der Eindruck entstand, ein zuvor exklusiver Diskurs sei nun auch einer wie auch immer definierten ZU-Allgemeinheit zugänglich.

Das Besondere an diesem Format war, dass auch die Lehrenden zu Wort kamen, während die bisherigen Diskussionen unter den Studierenden stattfanden. So brachte Georg Jochum seine juristische Perspektive ein und machte deutlich, dass noch härtere Sanktionen gegen die vier Studierenden als die vom Präsidium verhängten rechtswidrig seien – auch wenn es emotional eine andere Sache sei. Als Gründerin des artsprogram an der ZU brachte Karen van den Berg eine kunsttheoretische Perspektive ein, die sich mit dem Thema der Aneignung von offenen Räumen beschäftigte. Die Intention hinter der Installation sei ganz klar eine situative Aneignung des Plastikraums gewesen, bei der die Veränderung der persönlichen Wahrnehmung im Vordergrund stehe. Auch das Seekult-Team betonte, dass die Einladung im Plastikraum “Stuhl nehmen und genießen” lautete und nicht das Abreißen der Plastikfolien. Mit dem Hinweis, dass extra ein Ausweichraum von Seekult zur Verfügung gestellt wurde, falls man die Seminare nicht im Plastikraum abhalten wollte.

Kilian Seng wies auf die Außenwahrnehmung der ganzen Aktion hin und ermunterte das Publikum, einmal ‘Zeppelin Universität’ zu googeln. Der Anblick der News-Kachel Stand Ende November sei schon Strafe genug für die vier Studierenden. Es stelle sich die Frage, wie wir miteinander umgingen, wenn wir immer noch auf ihnen herumhackten, auch wenn sie seit dem ersten Tag Reue zeigten. Die psychische Belastung, nachdem sie wegen ihrer Aktion durch die Medien gejagt worden waren und sich auch auf dem Campus nicht mehr sehen lassen konnten, sollte hier nicht vergessen werden. In Kombination mit den Sanktionen des Präsidiums hat Seng also einen Punkt, wenn er in Frage stellt, inwieweit die Demonteure noch bestraft werden sollten. Zumal in der Diskussion von Studierendenseite erneut die Forderung nach Exmatrikulation laut wurde – andere seien schon wegen weniger exmatrikuliert worden.

Joachim Behnke spielte an diesem Abend ein wenig den Advocatus Diaboli und appellierte an die Bereitschaft des Publikums, sich auch einmal in die Perspektive der Täter hineinzuversetzen. Hätten diese sich vielleicht durch den Plastikraum provoziert gefühlt? War es wirklich absichtliche Zerstörung oder ein übertriebener Ausdruck von Ablehnung? Dass sich die vier Studierenden – in Anlehnung an den Reconquista-Begriff – als eine Art “Gotteskrieger” verstünden, die im Namen des RCDS eine christliche Hegemonie an der ZU wiederherstellen wollten, sei zumindest auszuschließen, so Behnke scherzhaft.

Übereinstimmung fand man in der Überzeugung, dass es sich bei den vier Jungs nicht um Neonazis handele und dass sie die Parolen teilweise tatsächlich aus Dummheit oder Unwissenheit verwendet hätten. Das ändere aber nichts an der problematischen Einordnung in die neue Rechte, die – unabhängig von ihrer Gesinnung – einen Schaden für die Universität darstelle, so Anja Blanke.

Selbst wenn die Parolen also aus bloßer Ignoranz heraus entstanden sind, so stellt sich die Frage, ob wir an der ZU im Sinne einer Null-Toleranz-Philosophie nicht einfach neue Erwartungen an uns selbst stellen müssen. Kann man sich im Jahr 2023 an einer selektiven Universität, die den Anspruch erhebt, die gesellschaftlichen Verantwortungsträger von morgen auszubilden, solche Fehltritte noch leisten? Eine offene Frage, die davon abhängt, wie wir die Fehlerkultur an der ZU weiterentwickeln. Ein offenes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Individuen und Überzeugungen auf dem Campus, das zwangsläufig zu Kollisionen und Fehltritten führt? Oder eine prophylaktische Zurückhaltung mit Safe Spaces, um einen harmonischen Zustand zu gewährleisten? Das sind mitunter Grundsatzfragen, die wir über unser Zusammenleben auf dem Campus stellen und beantworten müssen. Für beide Seiten gibt es gute Argumente. Und es scheint auch eine Generationenfrage zu sein: die konfliktbereitere alte Garde gegen die harmoniebedürftigeren Newcomer.

Schicht 9: Das andere Extrem

Während des Formats nahm der Vorfall eine überraschende Wendung, als eine Studentin der ZU mit jüdischem Hintergrund auf ein weiteres Kunstwerk im Rahmen des Seekult-Festivals aufmerksam machte. Es handelte sich um eine mit Graffiti besprühte Weltkugel aus Pappmaché, die mit der Aufforderung “Wer zuerst kommt, malt zuerst” ebenfalls zur Veränderung aufrief. Während der Globus vor ‘Der Raum’ in der Friedrichshafener Innenstadt ausgestellt war, wurden die beiden Hashtags “#freepalestine” und “#fromtherivertothesea” mit schwarzem Graffiti auf den Globus gesprüht. Später wurde er ungeplant für einige Tage vor der WhiteBox auf dem ZF-Campus temporär abgestellt. Zwei Slogans, von denen – ähnlich wie beim Plastikraum – einer deutlich problematischer ist als der andere. GPT-4 übernimmt dankenswerterweise die nicht halluzinierte Erklärung:

Der Hashtag “#FreePalestine” wird häufig verwendet, um Unterstützung für die Beendigung der israelischen Besetzung palästinensischer Gebiete und die Gründung eines unabhängigen, souveränen palästinensischen Staates auszudrücken. Er symbolisiert auch die Solidarität mit dem palästinensischen Volk und seinem Kampf um Selbstbestimmung und Menschenrechte. Aktivisten weltweit nutzen diesen Ausdruck, um Bewusstsein zu schaffen und Regierungen sowie Organisationen dazu zu drängen, die palästinensische Sache zu unterstützen. 

Der Slogan “#fromtherivertothesea” ist komplexer und umstrittener in seiner Interpretation. Er hat seinen Ursprung im Ziel der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aus dem Jahr 1964, einen einzigen Staat zu gründen, der sich vom Jordan bis zum Mittelmeer erstreckt und die historischen palästinensischen Gebiete umfasst. Während einige den Slogan als einen Aufruf zur Freiheit und Gleichheit im historischen Palästina sehen, betrachten andere, insbesondere Israel und seine Unterstützer, ihn als antisemitischen Aufruf zur Gewalt, der möglicherweise die Eliminierung Israels impliziert.

Um eine gewisse argumentative Kohärenz zu wahren, kann man diese Slogans mit dem gleichen Maß wie diejenigen des Plastikraumes interpretieren: Der Slogan ‘Reconquista’ wurde den vier Studierenden in seiner extremsten Interpretation als neo-nationalsozialistisch ausgelegt. “Fromtherivertothesea” wird in seiner extremsten Auslegung als schlichter Genozid gegen das jüdische Israel interpretiert. In Artikel 13 der Hamas-Konvention heißt es wörtlich: “There is no solution for the Palestinian question except through Jihad”. Das Bundesinnenministerium hat den Slogan ‘fromtherivertothesea’ Anfang November verboten, in Bayern wird seine Verwendung auf einer Stufe mit SS-Parolen und dem Hakenkreuz-Symbol geahndet. Georg Jochum wies in der Diskussion auch darauf hin, dass dieser Slogan im Gegensatz zum Begriff Reconquista juristisch strafbar sei. Es dürfte zwar auszuschließen sein, dass die unbekannten Urheber der Slogans tatsächlich Befürworter des Jihad sind. Aber dieser Absatz zeigt, wie schnell man einen Umstand eskalieren lassen kann, wenn man ihn zur Interpretation in das Extrem befördert. 

Die Studentin berichtete, dass das Kunstwerk kurz nach einer Studierendensitzung, in der die Slogans thematisiert wurden, abgebaut worden sei, ohne dass dies große Aufmerksamkeit erregt hätte. Sie stellte daher die Frage nach dem ‘agenda setting’ in der Debatte: Warum werden die beiden Slogans im Plastikraum fotografiert, um eine Welle der Empörung auszulösen, während die Slogans auf der Weltkugel einfach heimlich verschwinden? Die im Plastikraum mit dünnem Filzstift und Kreide aufgetragenen Slogans hätte man auch als schlechten Scherz abtun und gleich wegwischen können. Doch die mit Graffiti auf dem Globus aufgesprühten Sprüche sind nicht abwaschbar und das Kunstwerk wurde schnell wieder abgebaut – ohne Fotos und ohne Statements.

So zumindest ihre Anschuldigung. Wie während des Diskussionsformats nicht mehr ganz klargestellt werden konnte, war der Globus laut artsprogram vor der WhiteBox nicht offiziell ausgestellt, sondern nur temporär abgestellt. Später stellte sich auch heraus, dass es der Künstler hinter der Weltkugel selbst war, der sich, nachdem die Bedeutung des aufgesprühten Slogans in der besagten Versammlung bekannt wurde dazu entschloss, seine Installation auseinanderzubauen. Dies hätte wiederum den Eindruck einer Verhüllung erweckt, was aber nicht beabsichtigt war, sondern eher dem Eindruck einer Kompromittierung des Gesamtkunstwerkes durch einen extremistischen Slogan geschuldet war. Offen bleibt auch die Frage, wer die beiden Slogans ursprünglich hinterlassen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass sie von außerhalb der ZU kamen, da die Weltkugel in der Innenstadt als Installation des Seekult-Festivals zuvor öffentlich zugänglich war. 

Die Studierende erzählte auch, dass sie an der Universität bereits mehrfach antisemitisch angegangen wurde, weshalb sie mittlerweile nur noch in Begleitung und mit großer Angst an die ZU komme. Diese Vorfälle würden jedoch in den höheren Ebenen kein Gehör finden, da sie diese nicht schriftlich belegen könne. Nach ihrem sichtlich emotionalen Statement erfüllte ein lauter Applaus die Black Box, der fast aus allen Reihen kam. Denn es muss dem Ideal der Holisitik folgend die kleine Beobachtung erwähnt werden, dass die Reihe des Seekult-Teams – wenn überhaupt – nur sehr zurückhaltend applaudierte. Mitunter lag das aber auch daran, dass das Team im Statement der Studierenden angegangen wurde. Jochum fügte hinzu, dass das Statement von Seekult gegen jede Form von Phobie unglaubwürdig sei, wenn man gleichzeitig antisemitische Positionen kommentarlos hinnehme und verschwinden lasse.

Diese Schicht mag auf den ersten Blick wie ein eigenständiges Thema erscheinen, das nicht direkt mit dem Plastikraum zusammenhängt. Es wird aber deutlich, dass sie in vielerlei Hinsicht einen starken Kontrast zum Plastikraum darstellt und damit eine gute Perspektivierung ermöglicht. Zwar gibt es Unterschiede in der Herkunft der Slogans und der Art und Weise, wie die beiden Kunstwerke verschwunden sind. Aber gewisse Parallelen sind dann doch da: Beides waren Kunstinstallationen im Rahmen des Seekult-Festivals. Auf beiden wurden problematische Slogans hinterlassen. Aber der Umgang mit ihnen hätte unterschiedlicher nicht sein können. 

Schicht 10: Wie konnte es eigentlich soweit kommen?

In der Diskussion stellte Armen Avanessian die Frage nach den Anfängen. Es sei zielführender, nach den Ursachen zu fragen, als darüber zu diskutieren, wer nun das größere Opfer sei. Tatsächlich drehte sich bis zu diesem Zeitpunkt ein großer Teil der Debatte genau darum. Sind die Leidtragenden das Seekult-Team, das großen organisatorischen und finanziellen Aufwand von mehreren tausend Euro in das Kunstwerk gesteckt hat? Sind es Stefan Inauen und die sechs ZU-Studierenden, die ihre Kreativität und künstlerische Kraft in den Plastikraum gesteckt haben? Sind es die Täter, die hart bestraft wurden und nun psychische und professionelle Schäden davontragen? Ist es die Studierende, deren erlebte antisemitische Anfeindungen durch den Plastikraum überdeckt wurden und mitunter das relevantere Problem sind? Ist es unsere Gemeinschaft, in der man mit Andersdenkenden nichts mehr zu tun haben will? Ist es die gesamte Zeppelin Universität, die einen eigentlich vermeidbaren Rufschaden erlitten hat? Je weiter man in die Tiefe geht, desto klarer wird: Es gibt eigentlich nur Verlierer in dieser Sache.

Die Frage nach den Anfängen ist daher vielleicht sogar die bessere. Weniger, um eine Wiederholung in Zukunft zu verhindern. Denn der Plastikraum hat sich so tief in das kollektive Gedächtnis der ZU eingebrannt, dass künftige Kunstinstallationen auf dem Campus wohl so schnell nicht wieder angefasst werden. Sondern mehr, um das Gesamtbild abzurunden. Denn es scheint, dass der Vorfall mit mehr Durchlässigkeit innerhalb der ZU-Gemeinschaft hätte vermieden werden können, wenn die Checks and Balances besser funktioniert hätten.

Niemand verlangt von über 700 ZU-Studierenden, dass sie sich auf Kunst einlassen, die auf dem Campus ausgestellt wird. Man musste den Plastikraum nicht mögen. Es war auch gar nicht seine Absicht, gemocht zu werden. Er sollte entrücken, nicht gefallen. Aber zwischen einer Aversion gegen Kunst und einer eigenwilligen Entfernung von Kunst muss sich einiges aufschaukeln, was vorher nicht entschärft wurde. Es hätte viele Hürden geben können – oder besser: müssen -, bevor es zu diesem Vorfall kam. Von einem kurzen Wortwechsel am Wasserspender à la “Hast du das in 1.08 gesehen? Wie findest du das?”, aus dem sich ein ausgleichendes Gespräch hätte entwickeln können, über eine hitzigere Diskussion über Kunstinstallationen in Lehrräumen beim Mittagessen oder – leider immer noch – auf Facebook, bis hin zur direkten Konfrontation des Seekult-Teams oder des Künstlers bei entsprechenden Veranstaltungen. Nichts davon hat stattgefunden. Es ging von 0 auf 100.

“Wie alles, was Menschen so tun, ist es immer auch ein Spiegel der Gesellschaft”, sagt Stefan Inauen dazu. So steht der Plastikraum sinnbildlich für einen kollektiven Zeitgeist, der sich aus immer fragmentierteren Blasen zusammensetzt und aus den sich daraus bildenden Extremen getrieben wird. Blasen, die immer weniger Berührungspunkte miteinander haben. Das gipfelt im Plastikraum: Die eine Blase versteht überhaupt nicht, was die andere tut oder sagen will – und führt Aktionen durch, die für sie selbst gerechtfertigt erscheinen, für andere aber überhaupt nicht. Wenn wir uns also fragen, wie es so weit kommen konnte, dann weil wir zunehmend die Berührungspunkte verlieren, die das Gleichgewicht aufrechterhalten.

The Deep End: Der Plastikraum-Vorfall als Ausdruck eines neuen ZU-Spirits

Auf einer tieferen Ebene ist der Plastikraum mitunter die Manifestation eines kollektiven Geisteszustandes – eines kollektiven Bewusstseins – an der ZU. Es ist bezeichnend, dass Stefan Inauen mit dem Plastikraum einen ‘Raum im Raum’ geschaffen hat. Einen Raum, der einen entrückt und sich in einem anderen Raum wähnen lässt, obwohl man sich in Wirklichkeit im selben Raum befindet. Der geteilte Raum 1.08 wird von einem hauchdünnen – fast illusionistischen – künstlichen Plastikraum überlagert, dessen Entrückungseffekt durch aufgetragene Affekte erzielt wird.

Man möge den Autor dieses Artikels für seine langjährige Kritik an den sozialen Medien kreuzigen, die mittlerweile wie aus der Zeit gefallen scheint. Aber es ist das gleiche Phänomen. Wir erleben einen eigentlich geteilten Raum durch ebenfalls hauchdünne, transparente Schichten. Durch Glasscheiben, auf die wir unsere Affekte in ähnlich bunten Farben auftragen wie im Plastikraum. Und die uns dadurch entrückt fühlen lassen, herausgerissen aus einer eigentlich geteilten Realität.

Ist der ZF-Campus nicht selbst ein geteilter Raum, der hinter einer virtuellen Auftragung bunter Affekte verschwindet? Ist die ZU nicht Meta geworden? Und das nicht nur philosophisch: ohne Facebook, WhatsApp und Instagram - allesamt Plattformen von Meta - würde unser Zusammenleben und damit unser Spirit womöglich ein ganz anderer sein.

Das Leben in unseren virtuellen Plastikräumen aus Glas und Metall wirkt sich auch auf die sozialen Dynamiken auf dem Campus aus. Der Community-Gedanke, der den sozialen Medien innewohnt, färbt auf unser Selbstverständnis ab. Noch vor wenigen Jahren sprach man von der ZU wie von einer Familie. “Die ZU ist wie eine große Familie”, war ein Satz, den man damals oft hörte. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, und immer öfter spricht man von der ‘ZU-Community’. Die Kampagne der ZU für 2024 wird genau diesen Community-Gedanken in den Mittelpunkt stellen. Das mag auf den ersten Blick wie ein banaler Wortwechsel erscheinen. Er markiert aber eine tiefere Entwicklung innerhalb der ZU und unseres Selbstverständnisses.

Eine Community organisiert sich in erster Linie über Gemeinsamkeiten: Man teilt den gleichen Geschmack, die gleichen Werte, den gleichen Lifestyle, umgibt sich mit ähnlichen Charakteren und hat in der Regel bestimmte Richtlinien und Codes. Verstößt man gravierend dagegen, fliegt man raus. Eine Familie hingegen organisiert sich um ein tieferes, fast schon mystisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Innerhalb dieser sind die Geschmäcker, Lifestyles und Charaktere jedoch oft sehr unterschiedlich. Auch hier gibt es einige wenige, tief verwurzelte und damit implizite Werte – allerdings ohne explizite Guidelines. Die Community basiert auf gegenseitiger Sympathie, daher funktioniert sie meist harmonisch und man schätzt sich. Die Familie sucht man sich nicht aus. Es kann auch mal krachen und nicht jeder mag jeden – trotzdem hält sie zusammen.

Der Plastikraum – und gerade die Reaktionen darauf – zeigen, dass wir uns immer mehr zu einer Community entwickeln. Eine Community, deren Werte wohl selten so stark geformt wurden wie in diesem Semester – gerade weil sie so sehr auf die Probe gestellt wurden. Und vielleicht haben wir in den letzten Jahren das Verschwinden des mystischen ZU-Spirits gesehen, der aus einer eher familiären Dimension geteilter Realität und gemeinsamer Präsenz entsprang. Dafür erleben wir jetzt das Entstehen eines neuen ZU-Spirits, der fragmentierter in seiner Realität, virtueller in seinen Verbindungen und stärker auf gemeinsamen Werten und Verhaltensweisen auf dem Campus basiert. Ein Spirit, der weniger als wahrnehmbarer emotionaler Zustand in der Atmosphäre liegt, sondern diese Atmosphäre vielmehr durch affektive Momente immer wieder neu auflädt. Ein Spirit, der nicht mehr Grundrauschen, sondern blitzartige Entladung ist. Ein Spirit, der weniger aus routiniertem Initiativ-Engagement und terminierten Abendveranstaltungen besteht, sondern aus der affektiven, individuellen Entfaltung jedes einzelnen ZU-Studierenden – in welcher Form auch immer. 

Damit wächst die ZU mitunter in die Funktion hinein, die der ZF-Campus seit seiner Fertigstellung 2015 seiner Zeit vorweggenommen hat. Seine glatte Ästhetik schreit geradezu nach ständiger Aufladung, die der Affekt am besten leisten kann, egal ob virtuell oder nicht. Dieser Campus steht nicht mehr für die experimentelle Erarbeitung einer universitären Vision, er ist diese Vision. Aber wie jede Vision verliert sie ihre mystische Anziehungskraft genau in dem Moment, in dem sie manifest wird. Das gilt auch für den Spirit. Auch wenn wir das, geblendet von den bunten Affekten unserer individuellen Plastikräume, nicht immer so sehen und unserer alltäglichen Entrückung in diesen Tagen vielleicht etwas zu selten mit dem Bemühen um einen geteilten Raum begegnen. Das ändert aber nichts daran, dass sich dieser geteilte Raum unserer Universität hinter all den Affekten nicht doch verändert hat.

Im Inneren der Fassade musste sich erst das entwickeln, wofür das futuristische Äußere des Gebäudes bereits seit dem ersten Tag steht. Über diese schreibt ihr Erbauer: “Es scheint fast so, als übertrage sich das lebendige Treiben innerhalb des Campus auf die Außenhaut”. Eine Außenhaut, die in ihrem futuristisch-modernistischen Gewand aus silberner Metallverkleidung und verspiegelten Glasscheiben zunächst ähnlich entrückend wirken mag wie der Plastikraum. Waren seine Plastikfolien ja auch eine Art Haut zur Übertragung des affektiven Lebens der ZU-Studierenden. Doch genau diese Entrückung ist es, die jede ZUlerin und jeden ZUler auf seine ganz individuelle Reise schickt. Und auch wenn man gerade im KI-Zeitalter mit Anthropomorphismen immer vorsichtig sein muss, so ist der ZF-Campus eigentlich selbst die beste Verkörperung des Spirits, der ihn durchströmt: “Jede Stahlplatte bildet unterschiedliche Zinkblumen aus und wittert individuell ab. Dennoch ist es möglich, aus den „Individuen“ ein einheitliches Ganzes zu erschaffen”. ▪️