Paris, meine ewige Liebe

© Felix Lennart Hake
Die Anschläge des 13. November trafen Paris tief. Sie zielten auf das junge Herz der Gesellschaft, auf einige der lebendigsten Orte der Stadt. Wie haben diese schrecklichen Ereignisse den Blick auf die Stadt verändert?

Paris müsse eine tolle Stadt sein, bekomme ich oft zu hören, wenn ich von meinem Auslandssemester erzähle. Wer die Stadt aus Kurzurlauben und damit oft nur die schönen Seiten kennt, mag schnell zu diesem Urteil kommen. Doch auch nach fast vier Monaten in der französischen Hauptstadt möchte ich sagen: Es stimmt. Paris ist eine faszinierende Stadt – ob im Urlaub oder im Alltag. Eine Stadt, in der das, so oft angepriesene, französische „Savoir Vivre“ – die lockere Lebensart – ein Gesicht bekommt. Hier erscheint das Leben weniger schwer als in einem von latentem Pessimismus und Dauernörgeln geplagten Deutschland. Man geht aus, genießt die Gesellschaft von Freunden und Kommilitonen und das ehrfürchtige Gefühl, in einer der schönsten Städte Europas zu wohnen. Dazu die kulinarischen Vorzüge der französischen Küche und, nach abendlichem Ende der  Vorlesungen, von Zeit zu Zeit auch mal ein Glas französischen Weines. Klingt wie ein Traum? Ist es auch.

Doch dieses Bild drohte sich zu ändern, an einem milden Freitagabend im November, der seinem Ruf als Freitag dem 13. auf tragischste Weise gerecht wurde. Es sollte ein Abend deutsch-französischer Freundschaft werden, in vielerlei Hinsicht. Im Stade de France spielte Frankreich gegen Deutschland – ganz freundschaftlich. Doch stattdessen endete er in einem Drama. Eigentlich sollte es für mich ein Wochenende außerhalb von Paris werden, in unserer Partnerstadt Louviers, doch nie fühlte ich mich der Stadt näher als in diesen schwierigen Stunden.

Eine erste Nachricht erreicht mich im Zug auf dem Weg in die Normandie. „Schießerei in Paris“ lese ich und denke mir nichts dabei, allzu oft hört man leider Gottes von Einzelfällen, die in ihrem Ausmaß überschaubarer, wenngleich nicht weniger dramatisch, sind. Mediale Abstumpfung könnte man es nennen. Eigentlich schlimm. Aber daran vermag ich kaum einen Gedanken zu verschwenden. Viel zu schnell treffen die ersten Nachrichten von besorgten Freunden ein, die die Mitteilungen ebenfalls gelesen hatten. Ein mulmiges Gefühl kommt auf. Facebook ist mal wieder schneller und präsentiert mir einen Beitrag des französischen Nachrichtenportals „FRANCE24“ mit ersten, sehr vagen Informationen. Ich poste den Beitrag auf meinem eigenen Profil mit dem englischen Hinweis an alle Pariser Freunde, sie möchten sich in Sicherheit begeben  – rein prophylaktisch, denke ich mir.

„Kambodschanisches Restaurant im 10. Arrondissement angegriffen“ lese ich danach und mir wird anders. Ganz anders. Es war keine 48 Stunden her, da hatte ich selbst in einem solchen Restaurant gegessen. Kambodschanisch. Im 10. Arrondissement. Auf der Terrasse. Das „Le Cambodge“, das ich am Mittwoch zuvor besucht hatte, so stelle ich kurz darauf fest, liegt nur 200 Meter entfernt vom „Le Petit Cambodge“, das zu einem der tragischen Orte wurde. Nervosität macht sich breit. Sind alle Freunde wohlauf? Hatten sie mich nicht vor wenigen Stunden noch gefragt, ob wir zusammen ausgehen wollten? Ich musste absagen aufgrund meiner Reise, aber sie waren doch bestimmt unterwegs. Wer bleibt an so einem schönen Abend schon zuhause? Schnell treffen die beruhigenden Nachrichten ein, dass es allen Freunden in Paris gut geht. Dafür erreichen mich umso mehr Nachfragen besorgter Freunde und Bekannter aus Deutschland, wie es mir gehe. Ich bin erstaunt ob so mancher Nachrichten, in einigen Fällen hatte ich mit den Verfassern schon seit langem nur noch sporadisch Kontakt. Im Nachhinein betrachtet war diese Anteilnahme eine enorme Hilfe, ein großer Lichtblick. Ich steige an einem kleinen Regionalbahnhof aus und mache mich auf den Weg zu unseren französischen Freunden.

Wir freuen uns über das Wiedersehen, doch die Stimmung ist merklich gedrückt. Wenige Minuten zuvor war im Fernsehen noch das Freundschaftsspiel gelaufen, plötzlich erscheint Staatspräsident Hollande vor den Kameras und erklärt, Frankreich befinde sich im Krieg. Eine Formulierung, die später scharf diskutiert wurde, in diesem Moment aber keinerlei Bedeutung hatte. Es ist kurz vor Mitternacht und die Nachfragen reißen nicht ab. Ich poste erneut einen Beitrag auf facebook: „Danke an alle, bin in Sicherheit.“ Fast 90 „Gefällt mir“-Angaben innerhalb weniger Stunden. Ich bin erstaunt und fange langsam an, das Ausmaß zu begreifen. Facebook bittet mich, meinen „Sicherheitsstatus“ zu aktualisieren und mich als „in Sicherheit“ zu markieren. Ich leiste Folge, ganz automatisiert.

Dann die nächste beunruhigende Nachricht: Freunde einer Bekannten sind im Bataclan. Infos? Fehlanzeige. Ich kenne sie zwar nicht persönlich, fiebere aber dennoch mit. Virtuell, über WhatsApp. Was für manche Vertreter älterer Semester nur schwer nachvollziehbar scheint, zeigt sich hier auf dramatische Weise: Das Internet verbindet. Es dauert anderthalb Stunden, bis die erlösende Nachricht eintrifft, dass beide – zumindest körperlich – unversehrt entkommen konnten. Eine beruhigende Bilanz im persönlichen Freundeskreis, die sich am frühen Samstagmorgen ziehen lässt. Es folgt weiter Nachricht auf Nachricht und ich beginne, mich mit der Frage nach dem „Warum?“ zu beschäftigen. Nicht die beste Idee um drei Uhr morgens, aber an Schlaf ist nicht zu denken.

Der nächste Morgen bringt eine unangenehme Atmosphäre mit sich. Die Stimmung im ganzen Dorf ist gedrückt, der sonst so belebte Wochenmarkt beinahe leer gefegt. Die Stadtverwaltung war dem Schock einen Schritt voraus, hatte umgehend Kondolenzbücher vorbereitet und einen Gedenkraum eingerichtet. Ich trage mich in eines der Bücher ein, versuche, meinem Unverständnis Ausdruck zu verleihen. Es kommen andere Bürger vorbei, um ihre Trauer zu manifestieren. Man kennt sich nicht, und fühlt sich einander dennoch verbunden.  Eigentlich ein schönes Gefühl, wäre dort nicht der Schrecken der letzten Nacht. Der Rest des Wochenendes schleicht dahin, die Medien zeigen erste Spekulationen zu den Hintermännern und dem Ablauf der Ereignisse. Interessiert mich in dem Moment herzlich wenig. Schließlich wird es Zeit, dass ich mich auf den Rückweg mache, wieder in den Zug nach Paris steige. Nun bin ich keineswegs ungern unterwegs, doch auf dieser Fahrt zurück beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wohl wissend, dass es zu jenem Zeitpunkt keine europäische Stadt mit höherer Polizeipräsenz gegeben haben dürfte, fühle ich mich alles andere als sicher.

Doch plötzlich: Die Überraschung. Der Gare Saint-Lazare ist belebter als noch bei der Abfahrt, die Menschen strömen förmlich in die Stadt. Die Metro ist ebenso, wie gewohnt, gut besetzt. Auf dem Boulevard Montparnasse sind die Terrassen der Restaurants voll mit Gästen, vor den zahlreichen Kinos des Viertels bilden sich lange Warteschlangen. Was einen Tag zuvor noch unvorstellbar erschien, zeigt sich hier deutlich: Die Pariser trotzen dem Terror. Was sich später unter dem Hashtag #tousaubistrot (alle ins Bistro) zum Internetphänomen entwickelte, bedeutete für die Bewohner der Stadt vor allem, dem Alltag wieder Raum zu geben und nicht dauerhaft in Schockstarre zu verharren. Dass dies nicht immer so klappt, zeigt sich dann am nächsten Morgen auf dem Weg zum Campus. In der Metro ist es ungewohnt still, die Blicke versunken, während die meisten versuchen, das Geschehene zu verarbeiten. Ähnlich in der Uni, wo die nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo eingeführten Taschen- und Ausweiskontrollen nun noch schärfer sind als zuvor. Gespräche finden nur leise statt, die Trauer ist allen ins Gesicht geschrieben. Da ist es nur ein kleiner Trost, dass glücklicherweise keine Studierenden von SciencesPo unter den Opfern waren. Die europaweite Schweigeminute ist dann das wohl emotionalste, das ich seit langem erlebt habe. Nach dem – für Gänsehaut sorgenden – gemeinsamen Singen der Marseillaise kämpfen alle mit den Tränen, nicht wenige lassen ihren Gefühlen freien Lauf.

Diese Stimmung war bezeichnend für die ersten Tage, die aber auch von einer entschlossenen Zuversicht begleitet wurden. „Wir lassen uns nicht unterkriegen!“ war die Devise, keiner wollte dem Terror nachgeben. Was in den Medien als beinahe inflationäre Phrase gespielt wurde, wurde hier in die Tat umgesetzt. Und so entschließen wir uns noch am Montagabend, gemeinsam etwas Essen und Trinken zu gehen. Und wir werden es wieder tun, immer wieder. Wir werden uns nicht nehmen lassen, was diese faszinierende Stadt zu bieten hat. Jetzt, knapp zwei Wochen nach den Anschlägen, lässt sich mit Beruhigung feststellen, dass der Alltag wieder eingekehrt ist in Paris. Bei französischen Kommilitonen sind die Ereignisse kaum noch ein Thema, man wolle sich damit nicht noch mehr belasten, als dies ohnehin schon der Fall sei, heißt es dort. Und das ist richtig so. Nicht nur, weil man sonst dem Terror nachgäbe, sondern vor allem, weil Paris einfach viel zu schön ist, um es nicht zu genießen. Was wäre das Leben hier nur ohne gesellige Treffen in den Brasserien, „sur les terrasses“? Ohne die Abende am Canal Saint-Martin? Ohne die spontanen gemeinsamen Radfahrten entlang der Seine? Wohl kaum so lebenswert, wie es bisher war – und auch weiterhin bleiben wird. War ich im ersten Schockmoment froh, nur noch wenige Wochen in der Stadt bleiben zu müssen, so sage ich jetzt ganz offen: Ich werde dich vermissen, Paris!