Über den großen Vordenker und Weltweisen Karl Marx stellte der Psychologe Erich Fromm in Humanismus als reale Utopie einmal fest, es ginge ihm in der Betrachtung durch die Nachwelt „wie der Bibel: Er wird viel zitiert und kaum verstanden.“ Das mag natürlich zum einen an der intellektuellen Tiefgründigkeit und den offenen Anknüpfungspunkten seines umfangreichen Gesamtwerks liegen, zum anderen aber auch an der schlichten Tatsache, dass wir Marx in unserem Weltverständnis nur noch selten als historische Figur, als Mensch in Menschenform mit menschlichen Überzeugungen und menschlichen Schwächen wahrnehmen. Zu sehr ist er im Geist der letzten Jahrzehnte transzendiert, zu sehr fällt sein Leben für die Rezeption der Nachwelt ganz unmittelbar und deckungsgleich mit der nach ihm benannten Ideenfamilie zusammen und wird damit auch vorwiegend aus Spielarten der Affirmation oder der Kritik an derselben heraus gedeutet. Höchste Zeit also, möchte man meinen, die Person Marx aus dieser Sphäre herauszuheben, zu bespielen, mit Leben zu erfüllen und dadurch in einer Art und Weise zu re-materialisieren, wie es keine Biographie und keine historische Abhandlung könnte: mit den Mitteln des Films.
Der junge Karl Marx stellt sich dieser Herausforderung mit einem Ansatz, in dem sich sowohl eine gewisse Neigung zur Gewagtheit wie auch ein gewisses Festbeißen im Regelwerk der filmischen Orthodoxie erkennen lassen. Unter der Regieleitung des Haitianers Raoul Peck (der spätestens seit seiner preisgekrönten Lumumba-Dokumentation über la mort d’un prophète allfällig mit dem revolutionären Sujet vertraut ist) findet sich diese Gewagtheit vor allen in der Natur des Erzählten, die uns eben keinen alten, sondern einen jungen Marx präsentiert. Auf den sattsam bekannten Klischeekanon ausgelutschter Attributionen (Der grau durchwirkte Rauschebart! Das Kapital! Die – wenn auch anachronistische – Mélange aus Hammer, Sichel, Russlandbezug und rotem Stern!) wird bewusst verzichtet und somit ein ganz eigenes Handlungstableau entworfen. In diesem sitzt unser junger Marx tatsächlich leibhaftig und mit etwas verwildertem Bartwuchs da, zunächst in Trier, später auch in Paris, Brüssel oder London. Marx ist fünfundzwanzig Jahre alt, ein ständig klammer Außenseiter, ein Atheist jüdischer Abstammung. Verheiratet ist er mit seiner geliebten Jenny, einer Adelstochter auf Abwegen, deren Darbietung zwischen brav-präemanzipatorischem Hausfrauendasein und frühsozialistischer Theoriebeseeltheit munter hin und her changiert. Fehlt noch der Dritte im Bunde, der rebellierende Fabrikantensohn Friedrich Engels, den Marx im Laufe des Films kennenlernt und mit dem er trotz häufiger räumlicher Trennung ein unverwüstliches Gespann bildet. Die Dynamik zwischen beiden stimmt, das merkt man, und während der zur Melancholie neigende Marx dabei ein wenig den Part des Grüblers und Zweiflers einnimmt, tut sich der zwei Jahre jüngere Engels in seiner romantischen Rebellion gegen das Zwangsgeschirr seines Pietisten-Vaters sofort als echter Sympathiebolzen auf; eine Figur wie aus einem Alexandre-Dumas-Roman, Kavalier, Dandy, überzeugter Weltverbesserer. Bald verliebt er sich in die irische Fabrikarbeiterin Mary und zieht mit Marx um die Häuser, fungiert als dessen Adlatus, als Ideengeber, als Gönner… und hier sind wir dann auch schon beim Kern der Geschichte, die im Wesentlichen das Werden und Wirken des Trios in dem historisch recht straffen Zeitraum von 1843 bis 1847/48 erfasst, also vom Verbot der Rheinischen Zeitung bis hin zur schlussendlichen Ausarbeitung des Kommunistischen Manifests.
In eben diesem Verlauf findet sich dann auch die bereits angesprochene Neigung zum Bewährten, denn was Dramaturgie und narrative Struktur anbelangt, bewegt sich auch Der junge Karl Marx auf dem etwas eingestaubten Niveau eines europäischen Kostümfilms ohne größere erzählerische Wagnisse, Vorblenden oder filmische Manöver, ohne staunenswerte Schnitte, kultige Zitate oder sich in das Langzeitgedächtnis einbrennende Schlüsselmomente.
Zwar wird die launige Verdichtung und Konzertierung der immensen geistigen Arbeits- und Reifebemühungen beider Jungrevolutionäre vereinzelt auch szenisch versucht, gelingt aber in der Mehrheit der Fälle nur mit Abstrichen: so zum Beispiel, wenn Marx und Engels beschwipst nach Hause torkeln, der geneigte Zuschauer bei ersterem aufgrund der weingeschwängerten Stimme und des zittrigen Ganges allenfalls ein baldiges Erbrechen infolge der angenommenen Alkoholintoxikation erwartet und dann mit der intellektuellen Wucht der 11. Feuerbach-These konfrontiert wird: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an sie zu verändern“, bemerkt der mit einem Male vom Geist der Erleuchtung beseelte Zecher. Mit genügend Wohlwollen könnte man einer solch kruden Erzähldynamik freilich eine dekonstruierende, ja, entmystifizierende Intention zusprechen – aber angesichts der hier zur Schau gestellten Ernsthaftigkeit fällt das mithin eher schwer. Entschuldigend mag hier allerdings eingewandt werden, dass es für einen Historienfilm ohne das handelsübliche Gewirr aus Schlachten und Gemetzeln, extravaganten Liebschaften und verqueren Dreiecksbeziehungen, ja, sogar ohne echten figürlichen Antagonismus (die Marx ständig exilierenden Herrscher bleiben unreale Phantome; die auftretenden Kapitalisten der Hautevolee seelenlos und fremd; die strategischen Rivalen wie der Franzose Proudhon allzu schwach, kränklich und zweifelnd) wohl auch nicht immer einfach ist, ohne derartig plumpe Anbiederungen an die gewiss ahistorische Verknappung auszukommen. Am Ende ist es wohl auch eine Stilfrage, die man bemängeln mag oder nicht; in jedem Fall wird sie zu einem guten Stück durch das launige Geschichte-mit-Leben-füllen der beiden Protagonisten aufgewogen, die ohne die Last ihrer geschichtlichen Bedeutungsschwere als herrlich jugendlich-verschwörerische Idealisten auftreten können. Mit einer Mischung aus Elan, Herzblut, Überzeugung und auch einer Spur Chuzpe reizen sie ihre Rollen aus und erfinden dabei eine eigene Realität des Intensiven, ein Panoptikum der Intransigenz und der Rebellion.
So macht der Film dem Zuschauer von Mal zu Mal, von Szene zu Szene das Faktum bewusster, dass gerade dieser Film-Marx eben kein Alters-Marx ist; kein betulich operierender Kurator der neuen Ideenlandschaft, kein gefestigter Fixstern des aufkeimenden Sozialismus, sondern ein emsig-spontan operierender Kämpfer für Gerechtigkeit und Gleichheit, ein Guerilla-Marx, stetig vertrieben, stetig auf dem Sprung. Ein Mann, der antritt gegen den Pesthauch der bourgeoisen Besitzverhältnisse, die für die große Mehrheit der Menschen nichts als Hunger, Elend und Ausbeutung bedeuten. Unerbittlich etwa der heilige Zorn, der sich in sein Gesicht gräbt, nachdem ein Großindustrieller ihn mit satanischem Glanz im Auge von den ökonomischen Notwendigkeiten der Kinderarbeit zu überzeugen sucht – heißes Glühen, heftiger Widerspruch! Es ist eine ebenso starke wie notwendige Reaktion, denn auch dem Besucher fährt an dieser Stelle ob der sich so offen demaskierenden Verwertungslogik eines zutiefst menschenfeindlichen Systems blinder Kapitalborniertheit ein tiefer Schauer durch die Rückenwirbel. Doch hinter dem restlos Überzeugten verbirgt sich auf der anderen Seite auch ein Mann mit Herz, ein Bonvivant und Genießer, ein Suchender, ein Leidender. Noch dazu ist er maßlos in dem was er tut. Man sieht ihn dasitzen, das Hemd aufgerissen, der Bart verraucht und kratzig, die sozial so verwundete Seele mit Karaffen voll Hochprozentigem und literweise Fuselwein oder Champagner auf Eis betäubt… man sieht ihn nach durchzechten Nächten und davor lesen, liegen, lachen, lieben, die Gläser splitternd klirrend auf dem Boden, der Vorhang mit dem feinen Dekor aus Brügge oder Turin oder gar einer Pariser Vorortweberei ist heruntergerissen, der Wein schäumt zwischen den Beinen des hemmungslosen Materialisten (ein Ausdruck aus der Wagenseil’schen Übersetzung von Tropic of Cancer) und dann wieder sieht man ihn arbeiten, arbeiten, arbeiten; schreiben, schreiben, schreiben und leiden. Ständig verfolgt, gehetzt und unter politischen, psychischen und monetären Druck gesetzt von der Urmacht des Staates und der Allmacht des Kapitals und natürlich auch von den eigenen Geistern; dem stellenweise aufschimmernden und sich Bahn brechenden Bewusstsein um die eigene Bestimmung.
Ein solcherart passioniertes Aufspielen reißt mit und macht die insgesamt 118 Minuten Dauer zu einem überraschend kurzweiligen Erlebnis. Als einziges Manko mag man hier lediglich die zuweilen auftretende Unentschlossenheit nennen, mit der die Leidenschaft des Protagonisten und sein inneres Streben nicht immer folgerichtig und filmadäquat kontrastiert wird. So bleibt – nur um ein Beispiel zu bringen – etwa die Frage nach dem real vorhandenen Elend seltsam blass. Marx verzweifelt an den Zuständen und das zurecht; aber wo ist die visuelle Permanenz des sozialen Leids der Menschen, gegen das er mit seinen Weggefährten so emsig revoltiert? Wo ist (mit Ausnahme des Prologs) das Leid, der Dreck, der faulig braungrün schillernde Morast, die grausig nagenden Ratten, die sich satt fressen an den Leibern der Verzweifelten? Wo sind die Narben und die zerschundenen, zerfetzten Körper des Proletariats, die sich mit sehnsüchtigem Zittern ihrer Befreiung vom Joch des Großkapitals entgegenstrecken?
Wenn schließlich am Ende das Kommunistische Manifest bedeutungsvoll intoniert wird, dann kann das in Verbindung mit dem richtigen Bildmaterial die sozialistische Gefühlswelt durchaus in Wallung bringen; wenn aber anstatt übel entrechteter und geknechteter Industriesklaven nur ein paar seltsam dreinblickende „Kinderstatisten, die als Lumpenproletariat verkleidet wurden und für zusätzlichen Ausdruck etwas Ruß über die Wangen geschmiert bekamen“ (Der SPIEGEL) auf der Leinwand auftauchen, dann ist das vielleicht gut gemeint aber nur mäßig gut umgesetzt. Eine solche Form von sorgloser Hans-guck-in-die-Luft-Bildsprache passt nämlich einfach nicht zu den – auch historisch verbürgten – Grausamkeiten der damaligen Zeit und auch nicht zur Botschaft des Films.
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ lauten die ebenso bekannten wie geschichtemachenden Eingangsworte aus dem Manifest. Letztlich hat Der junge Karl Marx aber mit Gespenstern oder Gespenstischem nicht viel am Hut; alle Mystik und Arkana sind ihm fremd. Was er stattdessen bietet ist eine Erzählung, die aus der historischen Komplexität episodischer Schnipsel eine offen und lebendig gehaltene, gut verständliche aber nicht seichte Form angenehmer Kinounterhaltung zu destillieren weiß. Dass der Film ohne großes Hollywoodbudget auskommen musste und trotz karibischen Regisseurs einen genuin kontinentaleuropäischen Esprit verströmt ist nicht zu übersehen und der mithin konservative und manchmal allzu vorsichtige Erzählansatz kann wohl durchaus als verschenkte Chance, zumindest aber als allzu bequemliche Flucht in das Etablierte, bezeichnet werden. Doch selbst wenn man hier bedeutend härter ins Gericht gehen und einige Teilaspekte des Films (natürlich immer gemessen am cineastischen state of the art aus Übersee) unter dem Schlagwort eines unschlüssigen Dilettantismus rubrizieren wollte, es bliebe dabei, dass dieser Dilettantismus auf eine durchaus intelligente und fruchtbringende Art und Weise zutage tritt und selbst bei offenem Missfallen eine provokative Lust an der Auseinandersetzung mit dem historischen Karl Marx versprüht. In unserer heutigen Zeit sollte uns das alleine schon viel wert sein.
Noch vor, den Film zu sehen?
'Der junge Karl Marx' läuft momentan noch in Mannheim oder Tübingen. Im September erscheint der Film auf DVD/Bluray.