LitContest 2024 Platz 3: Helle in der Nacht

Awake

Helle in der Nacht –
Eine Ode an Harlem

Emancipate yourself from mental slavery singt Bob Marley in meinen Ohren die 147th Street runter zur Amsterdam Avenue, die rosaroten Pulverwolken Sonnenuntergänge über Sugar Hill. Es ist klirrend kalt als die Dämmerung einsetzt über der Stadt. Die Dame spielenden älteren Herren der Nachbarschaft, unvermeidlich gehüllt in den blauen Zigarren Rauch, beherrschen nicht länger die Straßen. Ihr spät sommerliches Gelage bei den Hydranten musste der Kälte weichen. Der Staub rieselt aus den Regalen der gestürzten Revolutionäre, die Sensation in den Winkeln der zerknüllten Zeitungen, die sich leise entrüstend über die Hydranten tragen, sind noch geblieben, letzte Spuren der lauen Sommerabende des kubanischen Herrenclubs. Ihres Zeichens hingebungsvolle Brettspieler sind sie eigentlich meisterhaft in der Disziplin des cornerns, sowie es selten zu beobachten ist. Als cornern bezeichnet man umgangssprachlich die zwanglose Aktivität sich den Stadtraum auf eine unkonventionelle Art anzueignen, die auf das spontane Beisammensein in Durchgangsarchitekturen aus ist und dann diesen – eigentlich der Flüchtigkeit vorbehaltenen – Orten ein verschwenderisches Genießen des Moments einverleibt, für den es keine weiteren Qualifikationen gibt als das Miteinander und vielleicht das Erinnern. Das gemeinsame Wachbleiben bis in die späten Abendstunden damit man mit seinen Geschichten weniger allein ist. Emancipate yourself from mental slavery, Bob Marley in Dauerschleife, ich frage mich wer sich eigentlich von wem emanzipiert, was sich von was befreit. Wenn der Geist wirklich versklavt werden kann, dann muss es so viele Arten dieser Versklavung geben, wie es Emanzipationswege gibt. Ich frage mich, was für Geschichten ich mir eigentlich erzähle, über mich und über die Welt. Diese Gedanken lasten nicht schwer, sie kommen einfach und gehen wieder – Besuchende. Etwas anderes wiegt schwerer. Eine Ratte springt zu meinen Füßen, huscht aus aufgeplatzten Mülltonnen hervor, gleich eines geölten Schattens, Richtung Riverside Park, Richtung Fluss. Es ist Oktober, ich trage hohe Stiefel, mein Mantel ist eng geknöpft, der Obststand an der Ecke Broadway ist noch da, sowie der Taco Truck, nur einen Steinsprung weiter. Bei dem Bedarf an frischen Früchten und Reis mit Bohnen gibt es keine Zeit gezählt in Jahreszeiten, kein saisonales Gesetz. H. beißt gedankenverloren auf das Silberkreuz um seinen Hals, seine Schicht hat gerade erst begonnen und sie wird bis tief in die Nacht gehen – auch hier keine Jahreszeiten, es scheint so, nur Tag und Nacht. Unsere Blicke begegnen sich kurz, über meine rechte Schulter zurück, H. dabei frontal, ertappt erwacht aus einem Ort der innerlichen Versenkung an dem ihm niemand folgen kann: Ein Moment des Lichts, für nichts, einfach so, in der Zentrifuge der Stadt, im Vorüberlaufen. Watch your step, sagt H.‘s Blick. Diesmal halte ich nicht inne, um mit H. zu sprechen, wir beschränken uns ohnehin meist auf minimale Kommunikation im alltäglichen Aufeinandertreffen an der Ecke. Manchmal nur ein lächelndes Nicken, das ausdrücken soll, ich sehe dich, wo wir beide wach sind und die Plätze doch nicht tauschen können. Dieser Blick jetzt umfasst eine andere Art der Kommunikation, dieser Blick ist vertraut und gleichzeitig unendlich fremd. Düster rotes Harlem, das noch wütet und noch dröhnt, das Klappern der Gestelle, Knochen und Schraubverschlüsse, eine Rose im Asphalt. Die gut gehüteten Ekstasen, der verstoßene Ruin, Mythos einer Nachbarschaft: Kupferfunken schlagen, das Sprühen der Tasten, Klimperkasten geträumter Tränen. Das Portal zur Subway gleicht in der Dunkelheit einer erleuchteten Höllenpforte, schluckt mich und die anderen Passierenden im Rhythmus eines anhaltenden Stroms. Ich erinnere mich an die erste durchzechte Nacht in Harlem, als ich in diese Stadt angespült kam, wie so viele vor und nach mir. Für mich bedeutete diese erste orientierungslose Zeit eine Wiederentdeckung der eigenen Bewegungsfreiheit und gab Anlass zu der Durchführung eines Experiments, das die erfahrbaren Grenzen meines Muts bemessen sollte: im Nachhinein erschien mir das ein ganz schön egozentrisch orientiertes Vorhaben, das eigentlich nur insofern gerechtfertigt erschien, als dass es keine Rechtfertigungen gegenüber jemand anderes zu erfinden galt. Die Nächte gehörten mir, sie breiteten sich vor einem aus, wie ein großes Versprechen, an das man tunlichst keine Erwartungen zu richten hatte: War das Freiheit? Gar ein Akt der Emanzipation? Schon in der ersten Sequenz jener Nächte erwachte eine Art seltsame Gewissheit, dass es sich bei diesem naiv umrissenen Experiment eigentlich um eine andere Suche handelte als zunächst angenommen. Und doch geht es um Freiheit. Die Sehnsucht nach der Freiheit in der Begegnung mit dem Anderen. Ich sitze im A Train und bin auf dem Weg. Ich denke an I., während das Außen hinter den Scheiben dahinfließt. Und die Musik macht trunken. Sie ist so ehrlich, dass es trunken macht, zu wissen, zu pfeifen, aufzuspringen, von den Hockern zu sinken, von etwas ergriffen zu werden, das doch so frei ist, wieder zu gehen und den Raum zu verlassen. Deshalb muss sich begossen werden mit den durchsichtig, rauchigen Stempeln, Signaturen der unsichtbaren Hand, die einen um den Verstand bringt, in Flammen aufgehen lässt oder aber säuselnd einlullt, in eine ultra-violette Andacht versunken. Hier traf ich auf I.. I. kam aus Dallas, Texas und war auf der Durchreise. Können wir uns denn wirklich frei begegnen mit diesen ganzen Geschichten, die uns anhaften? Vielleicht, wenn wir lang genug wach bleiben, zusammen wachen über unsere Geschichten. Wir ziehen mit den Anderen weiter in einen Hinterraum voller riesiger, hölzerner Fässer und einem schmalen Aufgang zu einem Dach. I. und ich sind an diesem Abend Verbündete im Bestaunen des Moments, wir erzählen uns fragwürdige Episoden unserer Geschichten, um nicht mit ihnen alleine zu sein. Es ist so leicht, dass wir uns nichts vormachen müssen und als vertraute Fremde glückselig co-existieren, in dem Wissen sich nach dem Anbruch des Morgens wahrscheinlich nie wieder zu sehen. Der Gesprächsfluss ist ein roter Faden mit allerlei Knäulen, Verirrungen und Windungen, aber er verliert sich nie. Ich lache schallend auf dem Dach. Es tut gut nicht leise zu sein. Die Musik ist so frei, die Interpretierenden vergessen sich, deswegen werden alle kurz verrückt. Und ist der Moment vorüber so kleben die Blicke der Verstärker*innen an den Vollführten, Vorgeführten. Sie lechzen nach einem Kuss, sie wähnen sich in der Nähe einer großen Muse, die sich vor aller Augen ihrer selbst entledigt hat. Sie wittern den Nektar, wie Pollenstaub haftend an der glatten Haut, den aufstehenden Haaren, am selbstbewussten Gang der Verführer*innen, die mit Unsterblichkeit bestechen, da sie selbst Verführte sind und jeden Tag den Kampf neu austragen, neu vertonen müssen, was sich abspielt zu jeder Zeit. Und stehen sie dann alle draußen, zusammen, gedrungen in die Aushöhlung der Backsteinwand, schwebt ein elektrisierter Nebelschwaden über den erhitzten Gesichtern und sie sind so schön, ihre Augen, die reisende Gedanken für eine Nacht bewohnbar machen. Der rasche Zug an der Zigarette von zitternder Hand, da es die Verweilenden noch einzufangen gilt, erst Ruhen darf der Blick, versunken in die Gewissheit der Ankunft, die noch bevorsteht. Am Treppenaufgang werden meine Knie ganz weich. Zwischen Feuerleitern und kratzbürstigen Mitbewohnenden geht ein Wind durch die Avenues und Kreuzstraßen, die aus der Erde gestampft aufragen, ein Relief der Resistenz durch das die Elemente fegen. Der Vorhang am düsteren Fenster bewegt, tänzelt die schwarze Katze auf dem umgestürzten Nachtisch und überblickt mit unvergleichlicher Eleganz, distanziert die Situation. Die Tür des Schnellzugs gehen geräuschvoll auf, heben mich aus meiner Erinnerung. Ich sitze im A Train und bin auf dem Weg in die Nacht. D. hat eine Karte für das Theaterstück Sleep no more! für mich hinterlegt. Sie hat mir zugesichert, auch dort sein. Meine Karte ist auf einen ausgedachten Namen hinterlegt, weil D. das gerne so macht. Das ist auch so eine Geschichte. Zusammen Helle Sein in der Nacht, denke ich.