In seiner Kindheit in der japanischen Präfektur Yamanashi habe er sich nie als ‘strange kid’ gefühlt, erzählt Yoshiaki Kaihatsu. Je älter er wurde, desto mehr sei seinen Freunden und seinem Umfeld jedoch aufgefallen, dass er mit einem anderen Blick auf die Welt schaute als seine Altersgenossen. Mit dreizehn Jahren entschied sich Kaihaitsu, der heute als Aktivist und Konzeptkünstler international tätig ist, Künstler zu werden. Im Rahmen seiner Installation für die „Inseln der Freiheit“, das diesjährige Ausstellungskonzept des artsprograms und des Zentrums für Kulturproduktion der Zeppelin Universität, erzählt der in Tokyo lebende Aktivist, was hinter seiner Kunst steht und welche Unterschiede er zwischen dem Kunstfeld in der westlichen Welt und dem japanischen Kunstfeld sieht.
Herr Kaihatsu, können Sie mir etwas über Ihr Projekt im Rahmen des Formates „Inseln der Freiheit“ erzählen? Was passiert, und welcher Gedanke steckt dahinter?
Kaihatsu: Meine Kunst ist an sich schon sehr mit dem Thema Freiheit verbunden, weshalb ich mit meiner Arbeit in das Ausstellungskonzept „Inseln der Freiheit“ passte und vom artsprogram eingeladen wurde, in der White Box auszustellen. Ich arbeite sehr gern mit Studierenden zusammen – so habe ich mein Projekt „Imapura“ bereits in mehreren Ländern und Universitäten durchgeführt. Bei dem Konzept geht es darum, den Teilnehmern immer wieder die gleiche Frage zu stellen: „What is your most important problem?“ Jede Person bekommt ein Plakat in die Hand gedrückt und hat die Möglichkeit, ihre wichtigstes persönliches Anliegen darauf festzuhalten und im Anschluss damit „demonstrieren“ zu gehen. Diese Demonstrationen werden dann fotografisch von mir festgehalten, um sie im Nachhinein rund um die Welt ausstellen zu können, wie zum Beispiel ab Freitag in der White Box-Ausstellung.
Eine solche Plakat-Demonstration fand am vergangenen Donnerstag am Campus der ZU statt. Die Botschaften auf den Plakaten der Studierenden reichten von der Thematisierung des Artikels §218 StGG zum Schwangerschaftsabbruch bis hin zu dem Wunsch, endlich so viel schwitzen zu dürfen, wie man möchte. Wie ist die Demonstration für Sie verlaufen? Was ist Ihnen dabei besonders aufgefallen?
Kaihatsu: Bei meiner Werkserie „Imapura – what is your most serious problem?“ ist es mein Ziel, verschiedene Botschaften in verschiedenen nationalen Kontexten festzuhalten und diese miteinander zu vergleichen. Ich war sehr froh, wie viele Studierende sich an der Plakat-Aktion beteiligt haben. An einem Ort wie Deutschland und der Zeppelin Universität geht es den Menschen gut, das merkt man. Hier herrscht Frieden und eine gute wirtschaftliche Situation, und das spiegelt sich auch in den Botschaften wider. Alle Teilnehmer haben jedoch ganz natürlich etwas aufgeschrieben, was von Herzen kam.
Im Jahr 2015 haben Sie die Imapura-Aktion an der Tama Art University in Tokyo, ihrer Alma Mater, durchgeführt. Welche Kontraste fallen Ihnen in Hinblick auf die inhaltlichen Botschaften der japanischen und deutschen Teilnehmer*innen auf?
Kaihatsu: Was mir auffällt, ist, dass sich die Aktion in Japan in einer kindlicheren Atmosphäre abspielte, was sich auch in den Botschaften widerspiegelt. So enthielten die Plakate der Studierenden aus Tokyo Aussagen wie „Heute sind Ferien!“, „Ich brauche ein neues Haustier!“ oder „Ich will eine neue Haarfarbe!“. Man muss hierzu allerdings erwähnen, dass die Plakatbotschaften in Tokyo höchstwahrscheinlich einen anderen Tonus gehabt hätten, hätte ich den Studierenden die Frage vor sieben oder acht Jahren gestellt. Heute gibt es keine großen politischen Konflikte und Probleme in Japan, daher sind die Menschen unbeschwerter und entspannter geworden. Aber damals hätten die Plakate sicherlich einen viel politischeren Kontext gehabt. Außerdem sind die Antworten ortsabhängig: Würde ich die Frage heute Menschen in Fukushima stellen, wären wahrscheinlich viele Ängste und Gedanken zum Atomproblem und der Furcht vor Gesundheitsproblemen und Krankheiten skizziert worden.
Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen dem europäischen oder amerikanischen und dem japanischen Kunstfeld?
Kaihatsu: Zwischen 2005 und 2007 habe ich für zweieinhalb Jahre in Berlin gelebt, und davor, von 1999 bis 2001, in New York. Vor dieser Zeit hatte ich eine ganz andere Wahrnehmung der Kunstwelt, und war der Auffassung, dass die gesamte globale Kunstszene immer mehr oder weniger ein und derselben Linie folgt. Mit ungefähr dreißig Jahren, als die renommierten japanischen Kunstmagazine für mich noch wie eine Bibel waren, dachte ich, der europäische Stil verbreitet sich und wird in der amerikanischen oder japanischen Kunstszene dann so aufgegriffen. Durch meine Zeit in Berlin merkte ich dann, dass es nicht nur eine Linie gibt, sondern ganz viele unterschiedliche und parallel zu einander verlaufende Linien. In den frühen 2000ern waren in den USA und in Japan und auf internationaler Ebene beispielsweise Cartoon-Gemälde sehr beliebt, während in Deutschland eher die abstrakte Kunst an Popularität gewann. Ich merkte schon früh, dass ich mit meiner Kunst nicht nur lediglich einer Linie folgen möchte. Gerade in Deutschland habe ich aber das Gefühl, dass meine Projekte hier irgendwie auf fruchtbaren Boden stoßen.
Was hat Sie geprägt – sowohl in Hinblick auf Ihre Person, als auch auf Ihre Arbeitsweise?
Kaihatsu: Ich würde sagen, dass das Erdbeben in Japan im Jahr 2011 mich und meine Herangehensweise an meine Arbeit sehr verändert haben. Eine ganze Stadt war plötzlich nicht mehr da, wir konnten nicht mehr hin. Die Folgen sind noch bis heute ein Problem. Das war der Zeitpunkt, ab dem ich beschloss, politische Forderungen und Botschaften in meine Kunst miteinzubeziehen. Dies ist eigentlich in Japan überhaupt nicht gängiger Konsens und eher verrufen, ganz anders als in Europa, wo sozial engagierte Kunstprojekte schon sehr viel Eingang in das Kunstfeld gefunden haben. Ich finde, dass sich das in Japan verändern sollte.
Was war Ihr erstes Projekt mit politischem Fokus?
Kaihatsu: Als Reaktion auf die Atomkatastrophe baute ich ein „Haus des Politikers“ nahe eines Atomkraftwerkes in Japan. Ich bin der Auffassung, dass Politiker vor Ort sein sollten, um sich ein Bild von den Umständen und von den Menschen, die dort leben, zu machen. In diesen Gebieten fühlt man sich teilweise wie in einer Geisterstadt; hinter jedem Fenster sind die Vorhänge geschlossen. In das „Haus des Politikers“ sollten – anders als bei all meinen anderen Projekten – diesmal nicht alle Menschen Eingang finden, sondern lediglich Politiker. Ich fertigte ein großes Schild an, auf dem stand: „Das Haus des Politikers“. Dann versendete ich 700 direkte Einladungen an japanische Politiker, sich das Haus anzuschauen und sich ein Bild von der Region zu machen. Leider kam nicht ein einziger, nur die Verwaltungsassistenzen der Büros wurden wütend. Das hat mir wirklich Bauchschmerzen bereitet und mich enttäuscht. Aber ich finde, es sagt auch etwas darüber aus, wie politische Kunst und Aktivismus in Japan angenommen und toleriert wird.
Wie sind Sie überhaupt erst zur Kunst gekommen? Und wie schafft man es in Japan, sich im Kunstfeld zu etablieren?
Kaihatsu: Schon mit dreizehn entschied ich mich, dass ich Kunst studieren wollte. Davor wollte ich Koch werden, aber ich bin mir sicher, ich habe die richtige Entscheidung getroffen (lacht). Als Künstler ist es in Japan jedoch sehr schwer, sich über Wasser zu halten. Besonders in einem Land, in dem der Kunstmarkt so klein ist: In Deutschland oder Amerika sind Galerien kommerziell, Kunstwerke werden ausgestellt und verkauft, aber vor dreißig Jahren, als ich anfing, künstlerisch tätig zu werden, gab es dieses Modell in Japan gar nicht. Stattdessen musste man als Künstler Mieten an die Galerien zahlen, um ausgestellt zu werden! Das hat sich nun ein bisschen verbessert, aber es hat meinen Werdegang definitiv erschwert. Mit neunundzwanzig entschied ich, keine Miete mehr zu bezahlen, und fertigte 365 Skulpturen an, die ich an 365 Museen und Galerien in ganz Japan versendete. Dann fuhr ich ein Jahr lang durch Japan und wohnte in meinem Auto, jeden Tag sprach ich mit Leuten, die mich ausstellen wollten. Das hat mich sehr viel darüber gelehrt, wie wichtig Kommunikation in der Kunst ist.
Ihre Projekten und Installationen haben stets eine sehr inklusive und partizipatorische Ader. Wie würden Sie Ihre persönlichen Stil beschreiben?
Kaihatsu: Mir hat mal jemand gesagt, mein Stil würde sich stetig verändern und wäre schwierig zu verstehen. Wenn jemand einen Picasso an der Wand hängen sieht, ist es einfach zu erkennen: „Das ist ein Picasso“. Ich habe nicht diesen wiedererkennbaren Stil. In Japan habe ich aber jeden Tag neue Ideen und mein Stil verändert sich wieder. Wenn ich sterbe, denke ich, dass die Leute mich vielleicht irgendwann verstehen werden (lacht).
Wo geht es für Sie hin, wenn das Projekt am Fallenbrunnen zu Ende ist?
Dann geht es für mich zurück in meine Heimatstadt Tokyo, und im Anschluss weiter nach Hong Kong, wo ich dieses Jahr auf der Art Basel ausstellen werde.
Im Rahmen seiner zweiwöchigen Künstlerresidenz in Friedrichshafen verwandelt Yoshiaki Kaihatsu die White Box am Campus Fallenbrunnen der Zeppelin Universität in eine „Insel der Freiheit“. Über zehn Wochen hinweg wird das von Kaihatsu entwickelte Konzept einer partizipativen Ausstellungsentwicklung Studierenden, Mitarbeitern und Gästen die Möglichkeit geben, in einer Speakers’ Corner Kurzvorträge, Lesungen und Performances über ein frei gewähltes Thema abzuhalten. Am Freitag, den 8. März 2019 wird die Ausstellung im Rahmen des Kunst-Freitags gemeinsam mit einer Music-Bar von Dezibel eröffnet werden.