Huis clos – „Die Hölle sind die anderen“ | #Corona

Bild: Wolfgang Fritz

„Die Hölle sind die anderen“ mag eine etwas polemische Darstellung der derzeitigen Situation sein, aber die Isolation mit einer oder mehreren Personen kann zuweilen wie Sartres Theaterstück über das dystopische Leben nach dem Tod wahrgenommen werden. Drei Personen sind dazu verdammt, auf Ewigkeit in einem Raum eingesperrt zu sein und dadurch bis ans Ende aller Zeit sich selbst durch die anderen zu sehen. Dass dies als „Hölle“ gesehen werden kann, hängt natürlich ganz davon ab, wie sehr man sich oder die anderen hasst, liebt oder doch lieber ignoriert. Wir sind zum Glück auch nicht auf Ewigkeit in unseren derzeitigen vier Wänden gefangen, doch die Reziprozität unseres Menschseins und unserer Beziehungen löst sich so schnell nicht auf. 

Ein Kriterium in dieser Analogie ist sicher, wie eng und freiwillig die Beziehung zu den Mitisolierten generell gestrickt ist, allerdings hat wahrscheinlich jede/r das Bedürfnis, mit den einzigen Menschen, die man grade um sich hat, auch Kirschen essen zu können. Dafür will ich ein paar Beobachtungen und Tipps teilen, die sich aus gegebenem Anlass, aber auch aus vorherigen, sehr engen Wohnsituationen oder Beziehungen herauskristallisiert haben. 

Resonanz

Mit jemandem (auch mit sich selbst) auf einer Wellenlänge zu surfen ist, egal wann, quasi DER Idealzustand (behaupte ich). Im Flow sein mit sich, mit der Umwelt, und vor allem mit anderen, ausgedrückt durch kontinuierliche komödiantische Konversationen, endlose intellektuelle Tauchgänge, tiefe, geteilte Trauer, nonverbale Ausrutscher oder ekstatische Epitome eines gemeinsamen Rätsels sind nur einige Beispiele dessen und natürlich (wahrscheinlich?) wünschen wir uns diesen Zustand ständig. Ein etwas sachlicherer Begriff ist hier vielleicht die Resonanz von Hartmut Rosa, die er 2016 als eventuelle „Lösung der Beschleunigung“ etablierte. Eine ganzheitliche Soziologie und Philosophie wird beschrieben, die unter anderem diagonale Resonanzbeziehungen zwischen Personen malt, welche die Welt zum Singen bringen. Dazu gehört wohl auch die Reibung, die im Wechselspiel von Harmonie und Dissonanz entstehen kann. Übrigens ist auch bei Heidegger ein erster Schritt in der Erkenntnis der Eigentlichkeit die „Gestimmtheit“, die den Bezug zur Welt aufzeigt. Aber das führt jetzt vielleicht etwas zu weit. Jedenfalls behaupte ich, dass diese Resonanzen, Gestimmtheiten und Dissonanzen häufig durch unser Gegenüber Gehör finden und darüber möchte ich nun schreiben.

Denn manchmal gibt es in diesen Beziehungen ein paar Konflikte, die über tagesformabhängige Stimmungsschwankungen hinausgehen und den Geist dabei Karussell fahren lassen, herauszufinden, was man eigentlich falsch macht oder warum man dieses einschränkende Gefühl im Hals empfindet, wenn man voreinander sitzt. Der erste, glorreiche Tipp ist nun also: Reden! Das, was einem den Hals zuschnürt, sind ungestellte Fragen, Erwartungen, divergierende Wahrnehmungen, akkumulierte Kleinigkeiten, oder einfacher gesagt: Unwissenheit. Und, aus Erfahrung kann ich sagen, meistens gibt es überraschende Antworten! Ein bekanntes Buch zu diesem Thema ist „The four agreements“ von Don Miguel Ruiz, der vier von den Tolteken, einer mesoamerikanischen Kultur aus dem 11. Jahrhundert, inspirierte Verhaltensregeln aufgestellt hat. Um diese Gespräche etwas einfacher zu machen, kann man beispielsweise folgende Techniken ausprobieren: 

Das Zwiegespräch

Entwickelt von Micheal Lukas Moeller, ist eine Praktik mit ziemlich wenig Regeln und ziemlich viel Spielraum, die für fast jede Art von Beziehung funktioniert. Vielleicht kann es auch über das „Zwie“ hinausgehen, und auch in WGs in Aktion treten. Die Idee ist, dass jede/r in dem Gespräch eine bestimmte Dauer den/die anderen phänomenologisch und frei Schnauze an dem eigenen Empfinden teilhaben lässt. Dabei könnt ihr euch die Fragen stellen: Wie fühlst du dich heute? Ist es dir zu dreckig? Nervt dich etwas? Findest du etwas besonders gut? Fühlst du dich leer wie ein löchriger Eimer oder sprudelst du über vor Energie oder Wut? Im Prinzip kann wirklich alles gesagt werden, ob es den anderen etwas angeht oder nicht. Falls es tatsächlich etwas bestimmtes zu lösen gibt, hat es natürlich auch Vorteile, das anzusprechen. Das Grundprinzip hierbei ist es, dass die Person einen Monolog hält, und danach nicht darauf eingegangen, sondern nur zugehört wird und durch den angestellten Plappermodus das Unbewusste stimuliert und selbstbewusst alles rauslassen kann, was dem eigenen Bewusstsein so vielleicht sogar verborgen war. Ist gar nicht so einfach  und lohnt sich einmalig, aber auch in regelmäßigen Abständen. 

In eigener Erfahrung habe ich festgestellt, dass es ein paar Anlaufsätze braucht, um sich in Fahrt zu reden, doch dann hat mich der Schwung öfters zu sehr klaren Beobachtungen geführt. Ich bin auch jedes Mal überrascht, wie die eigene Wortwahl den tatsächlichen Gefühlszustand ziemlich ungefiltert ausdrückt. Ihr kennt sicher diese berücht-berühmtigten Fettnäpfchen, in die man so gerne tappt, aber die meistens eine unangenehme Wahrheit beherbergen. Öfter sind zum Glück eher zutiefst romantisch-poetische Formulierungen aus mir rausgeplätschert, die meine eigene Zunge vor Süße betäubten, oder erstaunliche, auch emotionale Ergründungen meiner intrinsischen Hindernisse, Antriebe, Baustellen oder Wünsche. Ebenso hat mich mein Dialogpartner überrascht, denn ganz ohne zu fragen, lösen sich plötzlich Rätsel darüber, was denn eigentlich in dem anderen Geist rumschwirrt; das hat nämlich öfters wenig mit den eigens zurechtgelegten Begründungen zu tun, sondern sind wunderschöne Testamente eines denkenden und fühlenden Wesens, das sich den Kopf über die frustrierten Eltern zerbricht, den unterdrückten Wunsch nach Badengehen oder nach ruhiger Quality-time mit Schokolade und Rotwein. 

Die Erzählperspektive ändern

Es kann Wunder wirken, sich zeitweise aus der subjektiven Perspektive zu entheben, und von allen Anwesenden in der dritten Person zu reden. Das ist unglaublich absurd und in den ersten Sätzen seltsam, aber kann Hemmschwellen senken, auszusprechen, wie man wirklich zu etwas steht. Vor allem, wenn zurückhaltende Personen dabei sind, denen es schwerfällt über ihre Bedürfnisse zu reden, oder die die ganze Zeit einstecken, weil sie anderen nicht ihre Standards aufdrücken wollen. Und auf eine interessante Art und Weise entsteht eine sehr egodezentrische und kollektivistische Atmosphäre. Aber aufgepasst! Nach einer Weile tritt ein seltsamer, entfremdender Effekt ein, der einen von seinen empfundenen Emotionen abtrennt, da die ganze Zeit nur davon geredet wird, dass „sie Hunger hat“, „er traurig ist“ oder „sie grade bemerkt, dass ihr Putzwahn aus dem Kindergarten stammt, als ihr beim Kuchenbacken in der Spielplatzküche ständig die Sandmilch runtergefallen ist, weil das Sandmehl, die Sandbutter und die Sandschüssel im Weg standen.“ Wie auch immer, viel Spaß damit!

Einfach mal fragen

Das sollte man vielleicht nicht zu oft machen, und vor allem muss man wissen, wann man aus der empathischen Konfrontationssphäre wieder raus will, allerdings sind manche Dinge wirklich erstaunlich einfach zu lösen, indem man ganz klar fragt, was man nicht versteht und vielleicht auch, warum man diese und jene Annahme macht. Aber bitte nicht zu vorwurfsvoll, in den meisten Fällen passieren solche Ungereimtheiten wirklich nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus mangelndem Bewusstsein.

Fragen, die schon tausend Mal beantwortet wurden, aber nie beantwortet wurden.

Ja, nach dem Sinn des Lebens sucht man eigentlich nicht mehr, aber das ein oder andere Mal stellt sich nun mal diese Frage, oder was Glück ist, was einen in letzter Zeit glücklich gemacht hat, was man besser machen will, wovor man Angst hat … Wieder stehen wir vor einer nicht enden wollenden Liste an unzubeantwortenden Fragen, die allerdings in würzigen zwei Minuten pro Person zu erquickenden Antworten führen können. Auch da geht es einfach ums Zuhören, gar nicht unbedingt um eine Diskussion. Wenn daraus eine Diskussion wird, umso besser! Ständiger Alltag verführt nämlich häufig zu alltäglichen Gesprächen. Und hier geht es nicht so sehr um philosophisch fundierte Reflektionen, sondern den Status Quo des angesprochenen Geistes vor und in einem. In diese Kategorie fällt auch das Ausdiskutieren der eigenen, akademischen Arbeiten oder etwas gedankenlosere Spielchen wie Assoziationsgeschichten oder -ketten. Ich könnte mir aber vorstellen, dass dies ohnehin schon in euren ZUhausen passiert :).

Das Wunschrestaurant

Eine Sache, die ihr natürlich auch ständig macht: Kocht füreinander! Überrascht die anderen, geht auf ihre stummen Gelüste ein, die endlich mal ein gutes Pad Thai statt einer Tiefkühlpizza, oder simple Spaghetti mit Tomatensauce statt Fettuccine in Lachs-Sahnesoße erträumen. Serviert euch das Essen schöner als beim Drei-Sterne-Restaurant und trinkt einen selbstgemachten Eistee aus einem Metallstrohalm mit einem Basilikumblatt und einer Scheibe Zitrone. Ihr könnt euch auch gegenseitig euer Traumessen malen; Damit regt ihr die Interpretationsfähigkeit der anderen an, und zugleich eure vernachlässigten Malkünste. 

Der Andere

Heute habe ich von der Technik gehört, eine fiktive Person als Sündenbock für all den Groll zu imaginieren. Oft sind angespannte Interaktionen nur Projektion und haben gar nicht so viel mit dem Verhalten zu tun. Niemand von euch ist schuld an der Isolation oder an temporärem Konzentrationsmangel. Je nach Intensität, könnten vielleicht auch bestimmte Emotionstendenzen abgefedert werden, indem der passiv-aggressive Paul-Andreas, die wütende Wilma oder der traurige Torsten von der eigentlichen Person abgetrennt behandelt und vielleicht sogar ein bisschen genatzt werden könnten – von dem Betroffenen, sowie dem Ertragenden. 

Kennt eure Grenzen

Vielleicht ist diese Zeit auch dafür da herauszufinden, wann man eigentlich seine Ruhe braucht und die Energie anders als mit dem ständig Anwesenden aufzuladen. Zu sagen, dass man jetzt in den eigenen Tiefen graben will, mit anderen Menschen telefonieren mag oder sonstigen Passivitäten – wie rumliegen und Musikhören, Seriengucken, Hörbücher hören – nachgehen möchte, sollte eigentlich nicht zur Debatte stehen und vor allem keine Beleidigung sein. Beide profitieren davon, wenn man sich im richtigen Moment zurückzieht. Umgekehrt wäre es auch nicht schlecht, dem anderen das Gefühl zu geben, zumeist willkommen zu sein. Vielleicht stauen sich sonst seltsame Feindseligkeiten an, die durch offene Kommunikation zu verhindern gewesen wären. Ich finde eine Dauer für die Quality Time mit den anderen einzuführen ganz hilfreich, sodass man nicht tagelang aneinander vorbeilebt, aber auch nicht alle seine Verpflichtungen flöten lässt. Das ist aber wahrscheinlich schon immer ein Problemkind gewesen, ist doch der Plausch in der Küche meistens attraktiver als die noch unstrukturierte Hausarbeit.

An diesem Punkt können all diese Reflektionen ebenso gut mit sich selbst praktiziert werden. Wenn ihr euch schon gut kennt, lasst euch überraschen. Dafür gibt es die klassische Methode des Tagebuchschreibens, aber auf neue, mediale Erstaunlichkeiten erweitert; Ihr könnt zum Beispiel ein Videotage(oder Wochen-)buch führen, euch selbst Sprachnotizen sagen, wenn euch ein erstaunlicher Gedanke oder ein seltenes Gefühl kommt. Ihr könnt Gedichte schreiben, zum Beispiel Haikus, oder versuchen, das letzte Jahr einmal chronologisch durchzusprechen oder -schreiben. Ein japanisches Ikagai, das euch in der Welt verorten soll, macht auch ab und zu Spaß und kann zuweilen sogar Klarheit schaffen. Dafür schreibt ihr in vier sich überschneidende Kreise, was ihr könnt und wollt, wofür ihr bezahlt werden könnt und was die Welt braucht, und filtert dann in den Schnittstellen die Tätigkeiten soweit raus, dass ihr in der Mitte bei dem Sinn eures Lebens ankommt. Keine Sorge, meine Mitte bleibt auch oft leer. 

In jedem Falle ist diese Zeit, in meinen Augen, eine geniale Chance, seine scheue Beziehungsfähigkeit in Zeiten von Polyamorie und unsteten Verhältnissen zu üben und besser kennen zu lernen, vielleicht sogar zu überdenken. Dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.