Hinter gläserner Fassade – Bio am See

Mehr Grün am See, sowohl draußen als auch drinnen. Bio am See trägt seinen Teil bei. Foto: Phillip Käding

Dienstag, 13 Uhr, Mittagszeit. Die Sonne scheint durch die großen Fensterfronten des Bio-am-See-Bistros. Eine familiäre, plätschernde Geräuschkulisse umhüllt die langen Stehtische und die an ihnen essenden Menschen. Es ist voll. Die Leute stehen Schlange. Mitten in dem Getümmel, hinter dem Tresen der Essensausgabe hat er eben noch Fisch gebraten – jetzt plaudert Michael munter mit zwei Studenten. Seine offene Art, die aufrechte Haltung samt schlanker, großer Gestalt und der wache Blick lassen ihn weitaus jünger als 67 Jahre wirken.

Bio-Pionier wird er hier in Friedrichshafen genannt. Die früh heruntergelassenen Rollläden, die kahle Nachkriegs-Architektur, die Zurückgezogenheit der Menschen – der Pragmatismus der Industrie- und Arbeiterstadt äußert sich in jedem Winkel. Hier einen Bioladen samt Bistrot zu eröffnen war und bleibt ein bewusstes Wagnis.

„Das Leben passiert nicht von allein. Du musst es selbst anpacken“ sagt Michael. „Wenn man dran bleibt, hat
man die Möglichkeit alles zu verändern“. Er führt seine Hände energisch vor sich zusammen. Klatsch! Die rechte Faust schlägt in die linke Handmulde. Er strahlt. „Alles! – sich, das Leben und auch das Bewusstsein der Leute hier!“. Sein aufrichtiges, waches Lachen, wird von seinen angedeuteten Falten um die Mundwinkel umspielt.

Aufgewachsen in der Pfalz, als verwöhnter Sohn einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, war diese selbstbewusste proaktive Lebenseinstellung Michael nicht immer zu eigen. In dem Verlangen sich selbst zu spüren, begann er sich mit 21 von den Wellen des Drogenrauschs tragen zu lassen. Er führte ein Leben im Zwielicht, beklaute seine Eltern, tat alles für den nächsten Schuss. Bis er 10 Jahre später an den Strand der Berliner Entzugsklinik Synanon gespült wurde. Seinem verzweifelten Anruf folgte die direkte Abholung am Flughafen. Noch auf dem Weg zur Klinik wird ihm sein Rucksack – das Symbol gefühlter Freiheit und persönlicher Essenz – entnommen und in den nächstbesten Mülleimer am Straßenrand geworfen. Ab hier war klar – Michael muss sich von Grund auf ändern.

Ein Jahr später wechselt er in die anthroposophische Klinik Siebenzwerge in Salem mit dem Entschluss, diese nicht mehr zu verlassen. Dort lernt er das ganzheitliche Lebenskonzept nach Steiner kennen und findet in den Prinzipien der Nachhaltigkeit den schon lang verloren geglaubten Sinn wieder. Die enge Zusammenarbeit der Klinik mit einem Demeter-Hof verbindet den neu gewonnenen Anspruch ans Leben mit Michaels erlernten Koch- und Betriebskünsten. Dann gründet er selbst eine Demeter-Bäckerei, die nach einigen Jahren die gesamte Bodenseeregion beliefert.

„Für mich war klar: Das Drogen-Kapitel ist vorbei“, erzählt Michael gefasst. Viel zu sehr habe er am wachen Bewusstsein Reiz und Interesse gefunden. Er sucht die Herausforderung, möchte sein hohes Maß an Energie nicht mehr unterdrücken, sondern nutzen: Etwas auf die Beine stellen, etwas verändern.

Durch Zufall erfährt Michael von dem Leerstand eines Restaurants am Buchhornplatz in der Friedrichshafener Innenstadt. Ohne langes Zögern kauft er die Immobilie, eröffnet sein erstes Bio-Bistro und zieht nach Friedrichshafen, wo er kurz darauf seine Frau Birghitta kennen und lieben lernt. „In dem Moment als ich mich selbstständig gemacht habe, fühlte ich die absolute Freiheit. Ich spürte es genau: Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“ Michaels Augen glänzen. Es scheint, als wäre dieser Tag erst gestern gewesen, nicht vor 20 Jahren.

Birghitta kommt aus Überlingen, das für seine hohe  Lebensqualität bekannt ist. Thermen, Kurhotels, Märkte, Waldorfschulen – Überlingen ist einen starken Zusammenhalt und auch die Anthroposophie gewöhnt. Es wäre ein leichtes gewesen dort ein florierendes Bio-Geschäft aufzumachen. Doch darauf kommt es dem Pionier nicht an: „Überlingen wäre zu einfach. Die Leute kennen das Konzept und kaufen bereits Bio. Wir wollen an die Leute herantreten, die vorher nicht einmal wussten, was Bio eigentlich bedeutet.”

An einem der langen Stehtische unterhalten sich zwei Männer auf Arabisch. Ein Kind lacht lauthals los, als es sieht, wie dem Einen die Gabel herunter fällt. Seine Mutter lächelt, hebt die Gabel auf und führt ihre angeregte Unterhaltung mit einem Herrn in Anzug fort. Nebenan haben sich an der einzigen Tafel mit Sitzplätzen drei ältere Damen niedergelassen, die sich beglückt bei einem Stück Stollen anschweigen und die gerade herein kommenden Studenten beobachten. Seit seinem Entzug kennt Michael keine Konventionen mehr. Woher Wer Wann Warum zu ihm kommt ist ihm im Einzelfall egal, sein Wunsch ist es nur, dass sie sich hier zusammenfinden. „Daher auch die langen Tische“, erklärt er. „Der Kunde bekommt hier mehr als nur ein Essen. Wir wollen ihn langsam an das Konzept heranführen und das in einem kulturellen Rahmen“. Es geht um eine fließende Veränderung, die von Innen geschieht. Michael und Birghitta wollen nicht missionieren, sondern durch Qualität überzeugen.

Vor etwas mehr als einem Jahr zogen sie mit ihrem Bio-am-See-Bistro in den gläsernen Neubau in der Metzstraße. Die transparente Fassade, die hohen frei gelegten Decken und die feinen Eisenstreben muten modern, fast schon urban an. Von außen erblickt man das gut besuchte Bistro, hinter dem sich beim Eintreten in das Geschäft der Bio-Supermarkt eröffnet. „Vorne wird gegessen, was hinten verkauft wird. Das ist das Konzept! Und noch viel besser: Bei uns bleibt absolut nichts unverwertet. Läuft etwas im Supermarkt bald ab, verkochen und verkaufen wir es im Bistro. So entsteht ein geschlossener Kreislauf“.

In der Innenstadt Friedrichshafens regt sich etwas. Es sind die vielleicht ersten Anzeichen eines wohlwollenden Miteinanders. Michael krempelt sich die Ärmel hoch. Er hat begriffen, dass die Veränderung in sich selbst zu suchen ist. „Und diese Möglichkeit bleibt ein Leben lang. Was für eine vielversprechende Aussicht, oder?“

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Bio am See

Seit der Neueröffnung gibt es bei Bio am See für Studenten einen Sonderpreis von fünf Euro für das Mittagsmenü und 10% auf alle Produkte am ersten Dienstag jedes Monats. Auch eine Kooperation mit Studenten im Rahmen der Nachfolge des 'mundvoll's ist im Gespräch.

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