Digital Collage ist ein Genre, das dem geneigten Underground-Nerd immer häufiger auf Soundcloud und Bandcamp begegnet. „Syndrom lx“ ist einer der Künstler, die sich diesem neuen Sound zuordnen – einem Sound, der mindestens zur Hälfte von einem ominösen, unter unendlich vielen Pseudonymen arbeitenden asiatischen Musiker getragen wird. „Syndron lx“ scheint jedoch ein eigenständiger Künstler zu sein und beschreibt seine neue EP auf dem Dream Disc Lab Label als eine „rythmic disorientation, inspiring a seizure-type movement in the diseased listener“. Musiker wie „Syndrom lx“ scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die Wahrnehmungsorgane des Hörers vor eine unlösbare Aufgabe zu stellen und sie bis in den Krampfanfall zu treiben. Das macht ihre Musik, so absurd es auch klingen mag, zu etwas Erhabenen.
Jameson nennt dieses Erhabene das hysterische Erhabene. Der Künstler und Theoretiker Warren Neidich hat in seinen aktuellen Arbeiten eine neue Form des Erhabenen heraus gearbeitet: das „neurobiologische Erhabene“. Wir begegnen diesem neurobiologischen Erhabenen, wenn wir Objekte wahrnehmen, an deren Wahrnehmung sich unsere neuroplastische Architektur, also das Gefüge unserer Synapsen oder schlichter gesagt unser Gehirn, noch nicht angepasst hat. Vor allem in Zeiten des extrem beschleunigten technologischen Fortschritts ist das neurobiologische Erhabene omnipräsent. Es offenbart sich beispielsweise in den Konzentrationsschwierigkeiten, an dem vor allem viele junge, täglich der digitalen Datenflut ausgesetzte Menschen leiden, deren Gehirne nicht in der Lage sind, diese Daten in kürzester Zeit richtig zu verarbeiten.
Kultur ist ein wichtiger Faktor im Entstehen der Neuro-Architektur des Gehirns. Frederic Jameson hatte ein modernes Gehirn – ein Gehirn, das zwar an die Wahrnehmung und Verarbeitung moderner Architektur angepasst war, nicht aber an den postmodernen Hyperraum des Bonaventura Hotels. Beethovens Sinfonie Nr. 5, um ein weiteres Beispiel zu nennen, war zur Zeit ihrer Uraufführung verschrien, ein Zeitgenosse Beethovens bezeichnete das Werk gar als „abscheuliches Miauen“. Vielleicht war das nicht einmal eine Übertreibung, sondern entsprach tatsächlich der Art und Weise, wie diese Musik zur damaligen Zeit wahrgenommen wurde. Vielleicht waren die Gehirne der ersten Hörer schlicht nicht dazu gemacht, diese Musik richtig zu verarbeiten.
Doch genau diese Beschreibung zeigt, so Neidich, dass die Beethovens Fünfte für ihre Zeitgenossen etwas Erhabenes war. Mit Noise-Musik ist es das gleiche. Noise ist eine Musikform, die absichtlich alle Regeln der Kunst bricht und sich nicht um melodische und rythimische Konventionen schert. Die digitale Collage ist die neueste Radikalisierung dieses Prinzips. Pionier der Noise Musik war John Cage mit seinem Stück Water Walk, bei dem er mit alltagsgegenständen Krach machte. DJwwww samplet nun die Alltagsgeräusche des Digitalen, den „digitalen Lärm“, wie Byung-Chul Han sagen würde, um daraus unzusammenhängend wirkende kurze Stücke zu basteln, die er mutig als Musik verkauft. Viele der Stücke arbeiten mit dem Wechsel zwischen Stille und digitalen Sounds, beispielsweise „gruqsh“ von 2lön. Oft wirkt die Struktur dieser Wechselkomposition zufällig und arhythmisch.
Dem Neurobiologen Gyrgory Busaki zufolge unterscheidet sich Musik für den Hörer von White Noise dadurch, dass Musik sich aus zeitlichen Mustern zusammensetzt. Ist das Gehirn in der Lage, zeitliche Muster auszumachen, wird ein Stück als Musik wahrgenommen und nicht bloß als Lärm.
Die Radikalisierung von Noise geht Hand in Hand mit dessen Kommerzialisierung. Kanye Wests Album Yeezus inkorporierte beispielsweise Sounds, die man sonst nur von Underground Industrial-Rap Künstlern wie Death Grips kennt. Das mag daran liegen, dass wir uns an hektische und zerstückelte Bilder angepasst haben und in der Lage sind, in ihnen Zeit-Muster zu erkennen. Für viele mag die Werbung auf Jugendkanälen anstrengend wirken, und genauso anstrengend muten die heutigen Youtube-Stars an, die es sich zur Angewohnheit gemacht haben, nach jedem Satz einen sogenannten Jump Cut einzubauen. Aber genau diese hektischen und zerstückelten Bilder sind es, die die Aufmerksamkeit der jungen Generation auf sich ziehen, einer Generation deren Wahrnehmung sich auf genau jene hektischen Bilder und Töne angepasst hat
Wenn also die Kultur Einfluss hat auf die unseres Gehirns, argumentieren Autoren wie Warren Neidich, dann ist die Entwicklung unserer Neuroplastizität abhängig von Machtverhältnissen. Die vorherrschende Form der Macht ist also eine Neuromacht, deren Ziel die Normalisierung des Subjekts ist. Es mag paranoid klingen, aber einer der anerkanntesten Neurobiologen Marc Jeannerod wagte es, die Spekulation in den Raum zu werfen, wir könnten tatsächlich über ein neoliberales Gehirn verfügen. Das emanzipatorische Potential von Noise Musik besteht darin, mit der Neuromacht in den Wettkampf um die Aufmerksamkeitsstrukturen des Gehirns zu treten. Howard Slater geht hier bis zum Äußersten und spricht von einem Krieg um die Membran.
Künstler wie Kenji Yamamoto (aka. DJWWWW aka. Orokin aka. Nicole Brennan …) stellen unser Gehirn vor die wahrnehmungsbezogenen Aufgaben, die uns angesichts der fortschreitenden Digitalisierung erwarten. Sie strafen die Kulturkritiker Lüge, die behaupten, das Erhabene sei aus der Kunst verschwunden. Doch vor allem besteht die Chance, dass ihre polyrhythmischen, hektischen, krampfenden Kompositionen uns die Möglichkeit eröffnen, Musik neu zu denken – und zwar auf eine Weise, die in unserem Gehirn materielle Spuren hinterlässt.
Wer sich mit diesem Thema weiter auseinander setzen will, dem seien die Sammelbände “Noise and Capitalism” und “The Psychopathologies of Cognitive Capitalism” Teil 1 und 2 empfohlen. Anfang 2017 wird der dritte Teil dieser Serie erscheinen. Warren Neidichs erste Publikation auf deutsch wird in einer Übersetzung unseres Autors ebenfalls Anfang 2017 erscheinen.
Labels, die sich auf die hier vorgestellte Musikrichtung konzentrieren, sind: Dream Disk Lab, Wasabitapes und flamebait