Die Renaissance der Verschwörungstheorien im 21. Jh | #Corona

Bild: Reuters / Christian Mang

In der MDR JUMP-Corona-Sprechstunde zu Fakenews am 14. April fasste ein Hörer die aktuelle Unsicherheit in Worte:

„Wer schließt denn nicht aus, dass auch die Experten sich irren können und andere Wahrheiten wahr sein können?“

Verschwörungstheorien sind in Zeiten von COVID-19 hoch im Kurs. Die Ungewissheit über das Virus löst bei vielen Menschen Angst aus, die bei einigen auch in Wut umgeschlagen ist, und sich durch Demonstrationen, wie in den USA äußert. Die Sehnsucht nach einer Erklärung ist groß.

Was also tut der Mensch, um dieser Sehnsucht gerecht zu werden? Er kompensiert die Ungewissheit durch Komplexitätsreduzierung. Die Generierung von Verschwörungstheorien war hierbei schon immer ein beliebtes Instrument, um eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden. Manche dieser Theorien klingen absurd, andere wiederum überraschend plausibel.

Aus gegebenem Anlass ist es daher angebracht, sich mit der Entstehung von Verschwörungstheorien auseinanderzusetzen. Mit vielen Fragestellungen haben sich schon ebenso viele Forschende befasst: Wie entsteht eine Verschwörungstheorie? Wie funktioniert sie? Kann man sich vor ihr schützen? Doch heute, wenn wissenschaftliche und journalistisch aufbereitete Informationen nicht mal mehr einen Klick, sondern nur noch einen Fingertipp entfernt sind, da steht eine andere Frage im Mittelpunkt: Wie kommt es dazu, dass Menschen in dieser modernen Zeit – trotz Aufklärung und digitaler Transparenz – an Verschwörungstheorien glauben?

Einen ersten Hinweis darauf, dass diese Frage nicht nur in unserer Zeit Stirnfalten auf­wirft, zeigen die gewohnt klugen Worte Hannah Arendts. Bereits 1955 beschreibt sie, was wohl schon seit 75 Jahren das eigentliche Rätsel der Verschwörungstheorien ist:

„Wenn eine so offensichtliche Fälschung, […] von so vielen geglaubt wird, dass sie die Bibel einer Massenbewegung werden kann, so handelt es sich darum, zu klären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hunderten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat[1]

Wie entstehen Verschwörungstheorien?

Allgemein lässt sich die Entstehung von Verschwörungstheorien so erklären: Phänomene, die sich aufgrund ihrer Komplexität nicht erklären lassen und einem das Gefühl des Nicht-Wissens geben, versetzen den Menschen in ein Ohnmachtsgefühl, aus dem er sich befreien will. Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, bedienen sich Individuen an Verschwörungstheorien, die „unseren Geist vergiften und vernebeln und uns einen Widerstand gegen alle Erkenntnisse einpflanzen“, so Popper[2] . Vermeintliche Lücken und Ungereimtheiten der „offiziellen Version“ bilden oft das Fundament für die Logik einer Verschwörungstheorie; genauso wie das grundsätzliche Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ihre Entstehung kann demnach als Reaktion auf real existierende Probleme in der Gesellschaft oder ihrem System gedeutet werden. Sie macht auf Fehlentwicklungen aufmerksam, aber die Verschwörungstheorien tragen nicht zur Korrektur bei[3].

Wie funktionieren Verschwörungstheorien?

Verschwörungstheorien können laut Pfal-Taughber als „Erkenntnis-, Manipulations- und Legitimationsinstrument“verstanden werden[4]. Sie erfüllen die Rolle des Erkenntnis­instruments, indem sie Antworten auf das Unerklärliche suggerieren. Diese Erkenntnis erzeugen sie durch die Komplexitätsreduzierung historisch-politischer Entwicklungen, wie z.B. durch die Strategie der monokausalen Argumentation. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass komplexe Begebenheiten stark vereinfacht und auf einen Sündenbock übertragen werden. Diese Art der Argumentation resultiert aus dem von Verschwörungstheoretikern gelebten dualistischen Weltbild. Besonders deutlich wird das vereinfachende Weltbild anhand der genutzten rhetorischen Mittel, welche auf der Unterteilung in „Gut“ und „Böse“ aufbauen. Bill Gates verkörpert in aktuellen Verschwörungstheorien einen vermeidlichen Sündenbock und wird als Entwickler des Corona-Virus angeklagt[5]

Verschwörungstheorien funktionieren außerdem über einen fragilen Vertrauensprozess. Um diesen verstehen zu können, muss an dieser Stelle beschrieben werden, was „Vertrauen“ aus der Sicht von Luhmann eigentlich ist. 

Luhmann‘scher Begriff des Vertrauens

Vertrauen ist nach Luhmann „ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens“ und sozialer Systeme. Denn Vertrauen macht mit seiner komplexitätsreduzierenden Wirkung den Menschen handlungsfähig[6]. Georg Simmel sah Vertrauen in das System zudem als ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. 

Solch ein Systemvertrauen, besonders in das Medien-System, wird durch das Internet auf die Probe gestellt, da Vertrauen „[…] mehr und mehr in Anspruch genommen werden muss, damit technisch erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann“.[7] Was passiert, wenn dieses erforderliche Vertrauen zu groß sein muss oder zerbricht? Die Beobachtungen von Simmel und Luhmann sind in dieser Hinsicht noch immer erklärungsmächtig: Um handlungs­fähig zu bleiben, ist Vertrauen erforderlich. Wer also nicht mehr in das Mediensystem vertraut, muss sein Vertrauen in etwas anderes setzen – Verschwörungstheorien.

Kann man sich vor Verschwörungstheorien schützen?

(Massen-)Medien formen die Realität und transportieren somit kulturelle Werte, wenn man von der konstruktivistischen Ansicht Luhmanns ausgeht. Auch digitale Medien spielen eine wichtige Rolle im Hinblick auf kulturelle Entwicklung[8]. Verschwörungstheorien, die in den digitalen Medien kursieren, beeinflussen daher nicht nur aufgrund ihrer nahezu wörtlich zu verstehender, viraler Ausbreitung die wahrgenommene Realität der heutigen Gesellschaft. Geringe Medienkompetenz, mangelnde Bildung und Emotionen bilden zudem ein subjektives und teils irrationales Fundament, an denen Verschwörungstheorien andocken und wirksam werden. Hieraus begründet sich ihr Erfolg. 

Aktuell ist es also utopisch zu glauben, dass alle Individuen Verschwörungstheorien identifizieren können. Wenn man sich die von Luhmann gepredigte Annahme der konstruierten Wirklichkeit vergegenwärtigt und sich bewusst ist, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, so kann dies die Chance, einer Verschwörungstheorie zu verfallen, mindern. 

Eine Strategie, die komplett vor Verschwörungstheorien schützt, gibt es aber nicht. Satire, wie die „heute Show“ im ZDF in Deutschland oder die Sendung „Last Week Tonight with John Oliver“ in den USA, kann Verschwörungstheorien zwar angreifen und ihre Autorität mindern, jedoch kann den Verschwörungsideologen „[…] ihr Bedürfnis nach Identität“ nicht genommen werden[9].

Verschwörungstheorien sind aber nicht ausschließlich negativ zu bewerten. Sie treiben den gesellschaftlichen Diskurs an, indem sie auf soziale Probleme aufmerksam machen.

Eine Eliminierung von verschwörungstheoretischem Denken ist unwahrscheinlich. 
Denn sie steht im Widerspruch zu dem menschlichen Bedürfnis nach Individualität und Abgrenzung. 


Quellen:

[1]Arendt, 1955, S. 24

[2]Popper, 1994, S. 3

[3]Schöningh, 2011, S. 143 & 144

[4]Sonntag, 2014, S. 28

[5]Reinalter, 2016, S. 176

[6]Luhmann, 1968, S. 1

[7]Luhmann, 1968, S. 1

[8]Luhmann, 1996, S. 9

[9]Kahane, 2014, S. 37