Demokratie ist nicht selbstverständlich.

Wenn man die Generation unserer Eltern fragt, wo sie am 11. September 2001 waren, können einem die meisten die Situation wahrscheinlich ziemlich genau beschreiben. Am 06. Januar 2021 sitze ich mit meiner Wohngemeinschaft in meinem Zimmer. Es ist spät am Abend. Wir wollen einen Film anschauen, flachsen rum und ärgern uns über unsere Hausarbeiten. Als ich auf mein Handy schaue und die Nachricht sehe, öffne ich den CNN-Livestream und sitze fassungslos vor dem Bildschirm. Es ist der Tag der Capitol Riots in den USA. Ich weiß nicht, wie es anderen damit geht aber ich glaube, ich werde diesen Moment für lange Zeit nicht vergessen.

Manche würden die Geschehnisse jenen Mittwoch im Januar Donald Trump zuschreiben und behaupten, das sei ja in Amerika, so etwas sei in Deutschland ja nicht möglich. Dabei müssen wir gar nicht so weit schauen. Ende August 2020 hatten sich 400 selbst ernannte Freiheitskämpfer vor dem Reichstag versammelt. Mit Reichsflagge und selbstgemalten Schildern hatte man sich nach einer Corona-Großdemo zum Bundestagsgebäude begeben. Wenig später konnte man dann auf Twitter aufgebrachten Politikern beim bestürzt sein zusehen. In einem Statement ihrer Partei sagte die damalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer damals: “Ich muss sagen, ich bin richtig wütend über das und über die Bilder die man dort gesehen hat. Dass am Deutschen Bundestag die Reichsflagge wieder weht, das ist etwas, was nicht zu ertragen ist”. So weit so gut.

Am 18.11.2021 werden dann Aktivisten von einem Abgeordneten der AfD in den Bundestag gelassen und bedrängen unter anderem Peter Altmeier auf dem Weg zu einer Abstimmung. Bevor Kritiker jetzt das alte „aber wir dürfen nicht vergessen, dass ja auch“ Argument nennen, ja, auch Extinction Rebellion und Greenpeace haben schon Protestaktionen im Bundestag abgehalten. Der große Unterschied: Sie haben keine Politiker bedrängt. Alexander Gauland als Vertreter der AfD-Fraktion zeigte sich schockiert, er distanzierte sich deutlich mit starken Worten: „Es sind Dinge vorgefallen, die ich zutiefst bedaure und die mit der parlamentarischen Arbeit nicht zu vereinbaren sind.“

Warum das alles? Eine der großen deutschen Parteien baut stetig Stein um Stein die Mauer ab, die uns in der Vergangenheit von all den hirnlosen Aussagen und enthemmter Gewalt getrennt hat. 10% der deutschen Bevölkerung haben diese Partei gewählt. Die alte Mär des Protestwählers greift nicht mehr. Wer diese Partei heute wählt, ist Überzeugungswähler, wenn man etwas anderes behauptet, hat man sich entweder verrannt oder liest nicht mal mehr BILD. Diese Partei spricht das an oder aus, was andere zuvor nicht mal überlegt haben. Berlin ist nicht das neue Weimar. Das zu behaupten wäre kurzsichtig und vorschnell. Aber während uns jemand netterweise mit einem saloppen „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, auf seine Meinungsfreiheit hinweist, bereiten sich wahrscheinlich wieder irgendwo in Deutschland ein paar „berufene“ Altbundeswehrler auf den „großen Umsturz“ vor. Das blenden wir oft aus. Einfach weil es so gemütlicher, angenehmer ist.

Die Republikaner haben nach den Capitol Riots das Bilden eines ordentlichen Untersuchungsausschuss behindert, im Senat stellen sich einzelne Senatoren sogar hinter die Demonstranten und rechtfertigen ihre Taten. Und im Bundestag? Wo waren die Großdemonstrationen am nächsten Tag mit den Vertretern aller Parteien in der ersten Reihe mit Hunderttausenden Demonstranten im Rücken? Es stellt sich die Frage, ob die Menschen zu wenig Angst haben, das Volk geht auf die Straße beim geänderten Nutella-Rezept aber ärgert sich über Nazis im Bundestag lieber auf dem Sofa? Sollten wir Angst haben oder ist Angst tatsächlich ein schlechter Ratgeber ?

Im Böckenförde-Diktum heißt es: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.“ Dieser Staat sind wir. Unser aller Meinungsfreiheit ist grundgesetzlich verbrieft, wenn aber unfreiheitliche Stimmen zu dominant werden, zu viel Raum einnehmen, bestimmen sie den Diskurs und damit auch die Richtung, in die sich ein Staat entwickelt. Wenn diesen Meinungen dann auch Taten folgen, ist unser Rechtsstaat und damit auch unsere Freiheit ernsthaft bedroht. Ohne dass wir es merken. Trotz all der Klimaschutz- und Corona-Debatten dürfen wir das nicht vergessen. Das bedeutet aufzustehen, wenn im Familien- oder Freundeskreis wieder die ganz persönliche Grenze des Sagbaren verschiebt. Es bedeutet, dass wir als Studenten mit großem Netzwerk und oftmals starkem sozioökonomischem Hintergrund ganz besonders die Aufgabe haben für diese Freiheit immer wieder aufzustehen und einzustehen. Wer stark von ihr profitiert, sollte auch das Interesse haben, die Freiheit zu erhalten. Das Böckenförde-Diktum wird oft missinterpretiert als These zur Stärkung von „ethischen Autoritäten“ wie die Kirche. Böckenförde selber sagte dazu: “Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art ‚Gemeinsinn‘ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur?“ Wir müssen als offene Gesellschaft diesen Gemeinsinn für uns definieren und propagieren. Wir sind die Kultur. Jeder einzelne von uns.