Existenzielle Fragen sind es wert, bedacht zu werden. Um Sie auszusprechen, benötigt es zunächst jedoch einen Raum, in dem sie nicht stören. Die Universität ist solch ein Raum: Hier können dürfen, sollen wir unendlich schwierige Fragen stellen. Hier wird gelernt und gelehrt, Fragen zu bearbeiten. Hier erfahren wir, dass auch diejenigen Riesen, die uns auf Ihren Schultern tragen, an existenziellen Fragen gescheitert sein können. Hier sind wir umgeben von anderen, die sich diese Fragen in verschiedenen Graden der Direktheit auch stellen. Und hier sehen wir jeden Tag, wie weiter gefragt und an Antworten gefeilt wird – trotz oder gerade wegen der Gewissheit, dass die Antwort nie zufriedenstellen wird.
Also verschwende deine größte Ressource doch bitte nicht mit der Frage nach dem nächsten Kurs, Mittagessen, Praktikum oder Prüfungsrelevanz. Einfach mal über den Sinn des Lebens vor sich hin überlegen. Das solltest du tun.
Ein Plädoyer für das Grübeln.
Weil sie es uns wert sind
Nichts ist höher zu schätzen als der Wert des Tages. Wir beantworten also alltäglich die Frage, was so wertvoll sein könnte, dass wir den Tag dafür eintauschen. William Faulkner gewann im Jahr 1949 den Nobelpreis für Literatur und verbrachte demzufolge wahrscheinlich seine Tage mit Schreiben. Als er 1950 in Stockholm seinen Preis entgegennahm, redet er über jene Dinge, die es wert seien, beschrieben zu werden. Faulkner spricht also in gewisser Weise auch über das, womit er sich täglich beschäftigen möchte – über das, was er gleichermaßen wertvoll wie den Tag ansieht.
Noch heute kann man auf alten Aufnahmen hören, wie der Nobelpreisträger für geschriebenen Worte, doch mit den Worten ringt, dann, wenn sie ausgesprochen werden müssen. Aber er hat eine Botschaft an diesem Abend, die er unbedingt loswerden möchte. Faulkner, der nicht gerne in der Öffentlichkeit spricht, trotzt seinem eigenen Unwillen.
Der Mensch habe verlernt Angst zu haben. Er müsse wieder lernen, Angst zu spüren; sich selbst beibringen, dass es das Grundlegendste von Allem sei, verängstigt zu sein. Falls nicht deutlich ist, wieso er nun gerade die Angst so in den Fokus nimmt, dann bedenke, dass Nagasaki und Hiroshima noch kein Jahrzehnt her sind und die Allierten sich schneller wieder voneinander gelöst haben, als man “Nimm du doch zuerst deine Raketen da weg!” sagen kann. Damit wird klar, worauf der Autor abzielt. „There is only the question: When will I be blown up?” Und wegen dieser Frage hätten die jungen Männer oder Frauen das Wichtigste vergessen.
Ohne Angst könnten sie nicht über Liebe schreiben, nur über Lust; nur über Schmerz ohne Narben und über Sieg ohne Hoffnung. Sie hätten wegen der allumfassenden und nie endenden Angst vor der nuklearen Vernichtung alles Lebens vergessen, wie sich Angst eigentlich anfühle und noch viel schlimmer: Sie hätten „das einzige, was es wert ist darüber zu schreiben“ vergessen –
„die Probleme des menschlichen Herzens in Konflikt mit sich selbst.“
Manchmal fangen die Gedanken an zu kreisen. Ein schlechter Tag, ein schlechtes Gespräch, eine verpatzte Gelegenheit, ein vergessenes Zugeständnis – egal was für ein Moment der Auslöser ist, nachdem ich geschickt Mist fabriziert habe, stehe ich frustriert und grummelnd rum. Ein Missgeschick passiere jedem Mal, sagen die Freunde. “Hrmpf”, grummel ich. “Geh laufen und putz’ das Bad”, sagen die Mitbewohner. “Mhm mhm”, stimme ich zu. “Du bist eh dran.” “mhm weiß”, grummle ich. “Blick in die Zukunft und mach erstmal den Bachelor”, sagt meine Mutter. “jaja”, verdrehe ich die Augen.
Alles egal in dem Moment. Ich befinde mich gerade im Konflikt mit mir selbst. Meine Gedanken kreisen. Selbstmitleid und “selber Schuld” wechseln sich ab. Ich überlege mir schlaue Mechanismen zur Vermeidung eines ähnlichen Fehlers in der Zukunft. Dann fällt mir ein, dass ich so einen Fehler schon mal gemacht habe.
Meine Gedanken kreisen.
Das heißt nicht, dass sie sich im Kreis drehen; dass ich mich im Kreis drehe; dass es nicht vorwärtsgeht und auch nicht, dass es dadurch nur schlimmer wird!
Nur das menschliche Herz im Konflikt mit sich selbst sei wichtig genug, darüber zu schreiben, meint Faulkner. Was für eine dystopische, zerschmetternde Aussage wäre das, wenn dieser Konflikt von Grund auf schlecht wäre? Wie grauenvoll wäre es um die menschliche Gedankenwelt bestellt, wenn dieser Konflikt und seine Beschreibung nur eine Aufzählung von Leid und Furcht bedeuten würde. Das ist nicht der Fall – im Gegenteil: Das menschliche Herz im Konflikt mit sich selbst belebt den Menschen, der diesen Konflikt und dieses Herz in der Brust trägt.
Und darum geht es hier.
Argument I: Weil Sie es wert sind!
Es gibt schwierige Situationen, aus denen sich schwierige Fragen ergeben können.
Weißt du noch, wie unsicher du bei deiner ersten Klausur warst? Wie unsicher du immer noch manchmal bist, ob du wirklich du selbst sein sollst, wenn du unter Freunden bist? Verschreckt man die dann nicht? Erinnerst du dich an die bohrenden Fragen am Anfang: Nach Altklausuren und Tipps? Was man schreiben muss, damit die Dozentin wohlwollend die zusammengestauchte Hausarbeit liest? Weißt du noch, wie das war, das erste Mal mit jemanden auf einer ZU-Party rumzumachen, jemanden, den man eigentlich schon seit Jahren kennt oder jemand, der oder die oder they einem danach ständig über den Weg läuft?1 Wie das war, es auszuprobieren? Wie du dich gefühlt hast, als es zu Ende ging? Weißt du noch, wie du dachtest, es sei schwierig, dieses Diktat in der fünften Klasse? Vielleicht weißt du schon, wie sich deine Hochzeit angefühlt hat. Als man entscheiden musste, wen man auf Grund der Corona-Verordnungen draußen warten lassen musste.
Es gibt Herausforderungen und Wünsche, aus denen sich lebenslange Fragen ergeben können.
Was tun nach dem Bachelor? Was machen, wenn ich nicht rechtzeitig mit der Hausarbeit anfange? Wie kann ich mir dafür vergeben, dass ich wider besseren Wissens am Anfang des Semesters auf meiner faulen Haut gelegen habe? Wie kann ich weiter danach streben, immer mehr zu lernen, ohne zu denken, dass das heißt, dass ich jetzt nichts weiß? Wie kann ich andere Meinungen akzeptieren, obwohl ich sie nicht verstehe? Wie soll ich andere Meinungen akzeptieren, gerade wenn ich eigentlich denke, dass das Gegenüber doch auch eine intelligente Person ist, die anscheinend einfach irgendwann in ihrer Logik oder Wahrnehmung falsch abgebogen ist? Und wieso hat der Tag nur 24 Stunden? Offensichtlich ist das doch nicht genug.
Und es gibt existenzielle Fragen, die menschlich sind.
Wie kann jemand böse handeln? Was hält Assads Mutter von seinen Entscheidungen? Und was denkt Putins Familie? Gibt es überhaupt Handlungen, die in sich selbst genommen schon böse sind? Was ist der Sinn des Lebens? Braucht man Liebe, um glücklich zu sein? Kann es Glück ohne Unglück geben? Wird alles nur leichter, aber nicht besser? Kann man von jedem Individuum erwarten, was man von der Gesellschaft erwartet?
Jede*r wird sich mal mit den Kompliziertheiten eines Menschenlebens konfrontiert sehen, welche die Wurzeln solcher Fragen sind. Ob man diese Frage dann beantwortet oder wegdrückt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Dabei gilt zu beachten, dass keine dieser Fragen eine einfache Antwort hat und manche gar keine. Aber alle diese Fragen sind wichtig. Eine Antwort auf Sie würde direkt den Verlauf unserer Leben beeinflussen. Und wir können nicht ewig undifferenziert zu Ihnen stehen, denn dann kann jemand anderes oder die Umstände an unserer statt antworten.
Diese Fragen verdienen es, dass man über sie nachgrübelt, denn Sie sind die in Sprache gegossene Neugier des Menschen auf die größten Herausforderungen seines Geistes und Herzen. Diese schwierigen, sperrigen und unangenehmen Fragen haben alle gemein, dass man Ihnen respektvoll begegnen muss; dass man innehält und sich intensiv mit Ihnen beschäftigt, wenn man es will oder muss. Ob sein Leben einen Sinn hat, ist wichtig für den lebenden Menschen und er wird nicht mit einem kurzen, forschen Gedanken gefunden werden. Eine Existenzkrise ist ein elementares Problem und kann nicht einfach kurz erörtert und gelöst werden, um wieder ein lebenswürdiges Leben zu führen. Eine staunende, fassungslose Reaktion über unerklärlich Schreckliches kann nicht mithilfe einer To-do-Liste gelöst werden, sondern braucht Zeit und Verarbeitung, um mit dem Schrecken umgehen, um weiter machen zu können.
(Nicht nur) Existenzielle Fragen verdienen es mehr als alles Banale, dass man sie bedenkt. Sie verdienen es, dass man ihnen näher kommt. Dieses Näherkommen geschieht durch das Leben an sich – und… durch Grübeln.
Argument II: Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier?
Das Studium ist die Zeit der Studierenden. Zwar mögen Dozierende und das Studien- und Prüfungscenter den Eindruck haben, dass sie gottgleich über uns richten. Zwar mögen gewisse Regeln für Streit zwischen Sturm und Drang und damit über die Frage nach den wahren Herrschern über die Gebäude der Universität sorgen, doch wir wissen: Diese Universität wäre nichts ohne uns. Unsere geistreichen Beiträge, unsere Diskussionskultur, unser Engagement, unsere Studiengebühren. Ohne uns wäre alles doof.
Aber auf der anderen Seite ist das hier nicht nur unsere Zeit, weil wir sie in unserem unerbittlichen Griff aus grimmigen Evaluationen und unser Gier nach Ermöglichungskultur halten, sondern auch, weil wir endlich einmal innehalten, Atem holen und aus tiefstem Herzen ratlos sein können. Die Universität ist nämlich Raum der Fragen. Hier wird nicht nur versucht, die großen Fragen des Lebens, der Gesellschaft, der Kunst, der Kultur, der Wirtschaft usw. zu beantworten – nein! – hier wird uns sogar beigebracht, wer schon alles beim Versuch, sie zu beantworten, gescheitert ist.
Der Jüngere der beiden von Humboldts notierte 1799 zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ein stereotypes Exposé eines Humboldtprojekts:
Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten astronomische Beobachtungen machen können […] Das alles ist aber nicht Hauptzweck meiner Reise. […] Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung, auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein!
Ein erfahrenes Semester hätte verständlich, aber mitleidig genickt und die Augen im Verborgenen verdreht, bevor es beruhigend auf den Neugieregen und größenwahnsinnigen jungen Forscher eingeredet hätte: „Du Alex, das sind ja in der Tat spannende Themen, aber ich weiß nicht, ob das als Fragestellung präzise genug ist.“ Doch Humbi Jr. hörte nicht auf Zweifler, forschte einige Semester länger als ursprünglich geplant und konnte sich dabei stets auf seine wohlhabende Familie stützen…
Kurz gesagt: “Wir feiern Fragen”. Dies ist die Zeit, in der Gleichgesinnte mit existenziellen Fragen und der Suche nach Antworten aufeinandertreffen.
Diese Giganten des Fragens und Forschens stellten Hypothesen auf und verwarfen sie wieder, aber nie haben sie deswegen aufgehört, sondern weitergegrübelt.
Sich gekonnt die Kante geben gebannt Kant hingeben
„Verkopft!“ „Das führt doch zu nix!“ „Manchmal muss man auch einfach im Moment leben!“ Ich verstehe zwar den Sinn dieser Aufforderung, aber ich weigere mich die ausschließlich negativen Konnotationen des Verkopft-Seins, des qualmenden Denkapparats und des brummenden Schädels zu akzeptieren. Jede*r, der*die Muskelkater wenigstens mit einem Fitzelchen Stolz als Zeichen des erfolgreichen Trainings hinnimmt, sollte diese Zeichen des intellektuellen Trainings als Ehrensiegel wahrnehmen.
Manchmal wird kritisiert, dass Grübeln als kognitive Auseinandersetzung mit emotionaler Wirklichkeit zum Scheitern verurteilt sei. Aber wie soll man die Wurzel des Übels gleichzeitig als des Rätsels Lösung wahrnehmen? Ich setze dieser Aufforderung nach mehr „Hör’ auf dein Herz“ eine andere Aufforderung entgegen, die ich mal auswendig lernen musste: „Sapere Aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Das gilt für hier und jetzt und für die schwierigsten aller Fragen.
Also setze dich bequem hin, starre ins Nichts in der Ferne und nimm gegebenenfalls einen tiefen Zug und dann tue etwas, was deine Zeit wert ist. Fang an zu Grübeln.
1An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass man das Phänomen, neu bekannte Dinge oder Personen kurz nach dem Kennenlernen überall wahrzunehmen, als „Baader-Meinhof-Phänomen“ bezeichnet.
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