Im Leipziger Museum der bildenden Künste verwischen junge Netzkünstlerinnen die Grenzen zwischen Virtuellem und Realem – und bringen uns so neue Sehgewohnheiten bei.
In vielen unserer alltäglichen Situationen gilt als gegeben, dass eine Frau über sich selbst bestimmt. Wie sie wahrgenommen werden möchte, welche Ziele sie verfolgt und wie sie diese erreichen möchte. Doch “vielen” bedeutet noch lange nicht “allen”. Denn der Erringungsprozess jener Deutungshoheit endet nicht mit dem Wechsel vom Herd ins Büro. Sie wird fortwährend neu ausgefochten, im alltäglichen großen und kleinen Kampf gegen Vorurteile, Klischees und Unterstellungen. Gerade für den Feminismus gilt maßgeblich: Der Weg – samt Meilensteinen – ist das Ziel. Und angesichts der #metoo-Debatte, angesichts der frauenfeindlichen Äußerungen des gegenwärtigen US-Präsidenten, angesichts der Tatsache, dass sogar vor diesem Hintergrund die Relevanz von Feminismus nach wie vor häufig erläutert werden muss, scheint dieser Weg noch lang. So ist auf einer großen Wand-Aufschrift beim Betreten der Ausstellung “Virtual Normality – Netzkünstlerinnen 2.0“ im Museum der Bildenden Künste in Leipzig zu lesen:
In der Vergangenheit kämpften Feministinnen für das Frauenwahlrecht, den Zugang von Frauen zu Bildung und Beruf, gegen die Verdinglichung der Frau als Sexobjekt und das Schönheitsdiktat. Heute müssen sich Feministinnen fragen lassen, ob wir den Feminismus überhaupt noch brauchen.
Laut, bunt und zugleich intim präsentiert sich die “Virtual Normality“ mit ausgewählten Bloggern und Netzaktivisten, die im Netz bekannt geworden sind und nun auch dem breiten, öffentlichen Publikum vorgestellt werden. Die Kuratorinnen Anika Meier, die unter Anderem für das Kunstmagazin Monopol über Kunst in den sozialen Medien bloggt und Sabrina Steinek, Gründerin des herausragenden Online-Magazins Keen On, zeigen eine Sammlung eindrucksvoller Werke, die Themen wie Gender-Normen, Rassismus und Mündigkeit in Perfomances, Fotografien und Installationen übersetzen. Damit treffen sie offenbar einen Nerv: Zur Eröffnung ist der Saal des Museums brechend voll.
Zum Auftakt der Ausstellung im Museum der Bildenden Künste in Leipzig verschwimmen die Grenzen zwischen dem realen und dem virtuellen Raum. Während ihrer Live-Perfomance verkündet die Netzaktivistin Signe Pierce auf einer Leiter stehend laut mit Megafon „The medium is the message!“. Absolut richtig, wenn man bedenkt, wie sich der virtuelle Raum in jüngster Zeit vom Austauschplatz von Ideen hin zur Plattform für organisierten Protest entwickelt hat. Besonderes Merkmal dabei: Die Intersektionalität. Menschen aller Geschlechter, Ethnien oder Herkunft haben gleichen Zugang und gleiche Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Die Feminist*innen der Vergangenheit haben den Weg geebnet für den Kampf, der nun quasi in Version 2.0 fortgeführt wird. So distanziert sich beispielsweise die Künstlerin Nakeya Brown tendenziell vom Feminismus im Sinne des Kampfes gegend die männliche Vormachtstellung. Es geht ihr um „die Politik unserer Körper und die Bildung unserer Identitäten“. Auf ihren Fotografien ist eine afro-amerikanische Frau bei mehrerer Etappen der Haarpflege zu sehen, die schließlich versucht, ihr stark gelocktes Haar zu verschlingen. Der Widerspruch von Freude und Schmerz der vermeintlichen „Pflege“ zur Erreichung bestimmter westlicher Ideale, beispielsweise glatter Haare, ist in ihrer konzeptionallen Fotografie überdeutlich.
Mit teils pornographisch anmutender Ästhetik macht die Künstlerin Leah Schrager auf zwei wichtige Themen aufmerksam. Die Fotografien und Selbstportaits ihrer Serie „Infinity Selfie“ testen die Grenzen der Instagram-Guidelines aus und spielen auf das Thema der Online-Zensur großer Plattformen an. Wer sich also Themen wie Körper, Sexualität und Weiblichkeit auf eine eher laszive Art widmet, wird dort recht schnell mit Toleranz-Grenzen konfrontiert, deren Spielraum es klug auszunutzen gilt. Darüber hinaus hat Schrager nun – anders als in ihrer Zeit als Model – heute als Fotografin ihrer Aufnahmen die alleinige Verfügung über die Werke. Denn selbst zu produzieren und selbst zu vermarkten, gibt einen deutichen Zugewinn an Selbstbestimmtheit. Kritikern ihrer Arbeit entgegnet sie: „Sie scheinen es in Ordnung zu finden, […] wenn ein Mann eine Frau in seiner Kunst so darstellt. Wenn eine Frau das selbst macht, ist es keine Kunst. Genau gegen diese Art von Vorurteil kämpfe ich.“ Dem ausschließlich in den sozialen Medien existierenden Avatar LaTurbo Avedon geht es in seiner Arbeit weniger um Körperlichkeit, als mehr um die Kreation von Identitäten, wie sie im Online-Raum möglich ist und wie sie täglich, mit jedem Post, mit jedem Profil-Update, stattfindet. Dem Besucher ist es zur Eröffnung der Ausstellung möglich, live mit dem Avatar zu chatten.
Einmal mehr nähern sich hier die Kunst und der Aktivismus einander mit der klaren Botschaft: Es reicht. Ich allein entscheide, wer und wie ich bin. Feminismus 4.0 heißt die Bewegung, deren Anhängerinnen dafür kämpfen, beim Abweichen gängiger Schönheitsideale nicht diskriminiert, für das Einstehen der eigenen Sexualität nicht abgestraft werden. So ist es eigentlich auch die Linie zwischen Kunst und Leben, die bei diesem weiblichen Blick auf digitale Inszenierung explizit überschritten wird – und zwar im eigenen Zimmer, auf dem Bett oder in der Badewanne. Dem Ganzen liegt das Verständnis einer hyperfemininen Ästhetik zugrunde. Vertreten sind in dem Zusammenhang Pastellfarben und vor allen Dingen ganz viel rosa. Das fällt auf den ersten Blick auf. Es ist zart. Es ist warm. Es ist weiblich. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man auf den monumentalen Abbildung von Selfies der schwedischen Künstlerin Arvida Byström Achsel- oder Schamhaare, die aus Bikinis hervorblitzen oder spürt eine irritierende, teils bedrückende Atmosphäre der Aufnahmen aus einer Hotelsuite für Liebespärchen, in der sich die Künstlerin Juno Calypso alleine fotografiert. Die Ausstellung Virtual Normality Netzkünstlerinnen 2.0 lässt sich nicht einfach konsumieren. Immer wieder findet sich ein Haar in der Suppe. Es sind sowohl der subtile Wahn der Schönheit als auch das Nachdenken über das eigene „Darüberstolpern“, welche den Besuch zu einer Erfahrung machen, die nachwirkt.
Zu sehen ist die Ausstellung bis zum 8. April 2018 im Museum der Bildenden Künste in Leipzig.