Wie sich die elektronische Avantgarde der Ästhetik einer längst vergangenen Bewegung bedient um der Zukunft zur Rückkehr zu verhelfen.
Nach beinahe 3 Minuten Orgel-Crescendo tritt Oneothrix Point Never „auf die Bremse“. So zumindest beschreibt er selbst den Song Freaky Eyes aus seinem aktuellen Album Garden Of Delete. Nachdem Oneothrix Pont Never eine gewisse Spannung aufgebaut hat, hört man ein Pfeifen, dann ein Roger Rodier-Sample und auf einmal hat sich der ganze Song verändert. Irgendjemand ist auf die Fernbedienung getreten, irgendetwas hat sich ereignet. Das Pfeifen in Freaky Eyes zählt zur zweiten Familie der Geräusche und gehört damit einer der sechs Familien der Geräusche des futuristischen Orchesters an, die der futuristische Künstler Luigi Russolini in seinem „Manifest für die Geräuschkunst“ aufstellte. In diesem ruft Russolini seine Künstlerkollegen dazu auf, das Geräusch in ihre Musik mit einzuarbeiten. „Das Leben früher war nichts als Stille“, schreibt er. „Im neunzehnten Jahrhundert, mit der Erfindung der Maschinen, entstand das Geräusch. Heute triumphiert und beherrscht es uneingeschränkt die Empfindung der Menschen“. Die Herausforderung sei nun, sich diese Geräusche im futuristischen Sinne zunutze zu machen: „Besingen werden wir die nächtliche vibrierende Glut der Arsenale und der Werften, die von elektrischen Monden erleuchtet werden“. Der italienische Futurismus der frühen 20. Jahrhunderts war eine der ersten modernen avantgardistischen Bewegungen, gewissermaßen die Kunst der Zukunft, die alle vorwärtsgewandten Vorgänge anschmeißen und alles in einen rasenden Zustand versetzen wollte. Durch jene technikbejahende Vorwärtsgewandtheit wurde der Futurismus auch zur Kunstform des italienischen Faschismus. Die Geräuschmusik des Futurismus war der Wegbereiter für die „konkrete Musik“, welche aus auf Tonträgern gespeicherten Klängen und Geräuschen besteht, die neu angeordnet und manipuliert werden.
Die heutigen Erben des futuristischen Vermächtnisses sind Künstler wie Oneothrix Point Never oder DJWWWW. DJWWWWs „konkrete Musik“ folgt dem Aufruf der Futuristen, sich zeitgenössischer Geräusche zu bedienen. Seine Kompositionen sind meist unter einer Minute lang, hektisch, chaotisch und verunsichernd. Für 25 Sekunden prasseln dort alle digitalen Geräusche auf den Hörer ein, die man sich vorstellen könnte. Um es mit Byung-Chul Han zu sagen: DJWWWW macht digitalen Lärm. Nicht nur im Bereich der konkreten Musik erlebt der Futurismus gerade ein Comeback, sondern auch in der elektronischen Musik, ja sogar in der Clubmusik. Das Jahr 2015 stand im Zeichen der Neo-Futuristen wie Lotic, Arca oder Brood Ma. Auch sie bedienen sich digitalen Lärm- bzw. Geräuschquellen um Stücke zu komponieren, die brutal, rasend, zerstörerisch, und mitreißend sind und damit genau die vom Futurismus geforderten Punkte erfüllen: „Kunst“, schreibt Filippo Tommaso Marinetti in Manifest des Futurismus, „kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein.“ Wer Arcas aktuelles Album Mutant hört, hat einer Mutation beigewohnt, die all das war. Heftig, grausam und ungerecht. Die Neo-Futuristen aktualisieren die Forderungen, die die Futuristen an die Kunst stellten und lösen diese dabei von Forderungen nach Faschismus, Krieg und Misogynie. So geben sie uns ästhetisches Werkzeug in die Hand, mit dem sich die Zukunft wieder neu erdenken lässt. Jenes Werkzeug hatten wir bitter nötig.
Rasender Stillstand
Jean Baudrillard zufolge haben wir die Zukunft und die Zeitlichkeit verloren, da wir das Ende, also den „point of no return“ überquert haben. „Mein Hypothese lautet nun, daß wir den point of no return schon überschritten haben, daß wir uns bereits in einer exponentiellen, grenzenlosen Form befinden, in der sich alles auf ewig im Leerlauf entwickelt (…), wobei wir alles gleichzeitig verlieren: (…) die Projektion in die Zukunft sowie die Möglichkeit, diese Zukunft in gegenwärtiges Handeln zu integrieren.“ Die Futuristen wollten eine Geschwindigkeit besingen, die, um es mit Virilio zu sagen, nun zu einem „rasenden Stillstand“ verkommen ist. Ein rasender Stillstand, der, wie Georg Diez trefflich anmerkt, eine Funktionsweise des Neoliberalismus ist, welche das Gefüge der Zeitlichkeit vernichtet. Obwohl sich FDP-Politiker momentan ironischerweise als #stillstandverweigerer bewerben, ist vornehmlich der Neoliberalismus verantwortlich für den momentan vorherrschenden „Kult der Gegenwart“, der jede Veränderung zu verhindern scheint. Das Paradoxon, dass es einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als eine radikale Veränderung im ökonomischen System, basiert genau auf dieser Unfähigkeit zur „Projektion in die Zukunft sowie der Möglichkeit, diese Zukunft in gegenwärtiges Handeln zu integrieren“.
Dem Leerlauf der Gegenwart setzen die Neofuturisten das Ereignis entgegen. Das Pfeifen, das die gesamte musikalische Ordnung in Freaky Eyes über den Haufen schmeißt, ist ein solches Ereignis. Für Slavoj Žižek ist ein Ereignis „etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe, ein Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis.“ Mit der Einbindung des Ereignisses in ihre Musik stellen sich die Neo-Futuristen klar gegen den musikalischen Leerlauf, der im Mainstream vorherrscht. Das beste Beispiel für diesen Leerlauf ist der sogenannte „Drop“ in einem EDM-Stück. Der Song baut eine Spannung auf, dann kommt normalerweise ein Geräusch oder ein synthetischer Trommelwirbel und dann der Drop: für ca. 20 Sekunden ist der Bass lauter, die Melodie prägnanter. Danach kehrt der Song wieder zurück zur vorherrschenden Struktur. In den Liedern der Neo-Futuristen hingegen verändert sich das Tempo, Schüsse unterbrechen den Song, Stimmen kommen aus dem Nirgendwo und man hört Geräusche, die an den Lärm erinnern, den Michael Bays Transformer machen, wenn sie sich aus einem Gegenstand formieren.
Die Zukunft als Zeit des Politischen
Indem sie derartige heterogenen Ereignisse in ihre Songs einflechten, entsagen sich die Neo-Futuristen dem Faschismus der alten Futuristen und stellen ihm ein emanzipatorisches Projekt entgegen. Obwohl Neo-Futuristen mit der digitalen Ästhetik des Silicon Valley und der großen Tech-Unternehmen arbeiten, nehmen sie diese nicht unreflektiert auf, sondern spielen mit ihr, untergraben sie. Ihnen geht es darum, emanzipatorische Zukunft zu schaffen, die eine Alternative zur klassischen Tech-Zukunft des Silicon Valleys bietet. Das Kollektiv Eco Futurism Corp. beispielsweise zitiert die architektonische Ästhetik des Silicon Valleys, die versucht, Natur und Technologie zu vereinen. Quantum Natives, ein anderes Kollektiv, arbeitet aktiv an der Entwicklung alternativer Welten. Ihre Website ist eine Art neofuturistische Alternative zu Google Maps. Musikalische Weltentwürfe stellt auch J.G. Biberkopf auf seiner aktuellen EP Ecologies vor. Konkret politisch wird es bei NON Records, einem Label, das mit kommunistischer Revolutionsästhetik arbeitet. Emancipation, das neuste Release des Labels, auf dem verschiedene NON-Künstler vertreten sind, macht das emanzipatorische Projekt deutlich. NON-Records Speerspitze Angel-Ho sagt über die EP: „Ich wollte Tracks machen, die zu einem emanzipatorischen, vereinenden Erlebnis für alle Hörer werden“.
Die Popularität, derer sich Neo-Futuristen wie Arca oder Lotic erfreuen, scheint darauf hinzuweisen, dass auch 2016 im Zeichen dieser Ästhetik stehen wird. Und es scheint darauf hinzuweisen, dass diese Ästhetik Teil eines Widerstandes gegen ideologische Hegemonie ist, infolge dessen die Zukunft als Ort der Hoffnung statt nur der Katastrophe gesehen wird. Erst wenn diese Zukunft entdeckt ist, lässt sich die Gegenwart definieren, eben in Relation zu ihr. Auch in der Theorie wird die Zukunft neu erdacht. Bewegungen wie Akzelerationismus und spekulativer Realismus bringen frischen Wind in den theoretischen Diskurs, genau wie die Neo-Futuristen frischen Wind in den künstlerischen bringen. Es scheint tatsächlich so, als stünde der Zukunft ein großes Comeback bevor.