Zwischen Erwartung und Realität klafft eine Wunde
Vom 11. bis 15. November feiert ganz Indien das Lichterfest Diwali. Die ungreifbar pulsierende gesellschaftliche Kultur des Landes ist hinterlegt mit einer unfassbar starren gesellschaftlichen Ordnung, die Menschen verschiedener und gleicher Religion, Hautfarbe und Herkunft spaltet. Grund genug, sich mit dieser Ordnung auseinanderzusetzen: Das Kastenwesen, 1949 laut Verfassung abgeschafft, ist überall präsent. Außer dort, wo die Profiteure leben.
In einem Klassenzimmer in Jodhpur, Rajasthan, sitzen dreißig Frauen und Mädchen. Sie sind zwischen 10 und dreißig Jahre alt, tragen verschiedenste, bunte Saris und starren gebannt in Richtung Tafel. Eine Gruppe erwachsener Frauen hat sich nach vorn gesetzt, während drei jüngere Mädchen ganz rechts außen kaum etwas sehen. Auch unter ihnen sitzt eine Erwachsene, sie wirkt fehl am Platz. Doch sie gehört dazu; alle vier sind Muslimas.
Alle Frauen und Mädchen erhalten in diesem Zimmer an einem heißen Vormittag im Februar 2014 Unterricht in Englisch und Mathematik. Nicht ausgebildete Lehrer, sondern zwei erfahrene indische Social Workerinnen und drei europäische Freiwillige (unter ihnen der Autor) unterrichten sie. Das ist völlig normal bei über drei Millionen NGOs im „Schwellenland“ Indien und für eine Schicht, die weder Geld noch Zeit oder Zugang zu akzeptabler öffentlicher oder privater Schulausbildung hat. Fast alle der anwesenden Hindu-Frauen sind Dalits. Unberührbare. Kinder Gottes. Diese soziale Schicht, wie man es hierzulande sagen könnte, lebt außerhalb der tausenden Sub-Kasten, die die indischen Gesellschaften ordnen. Der Plural Gesellschaften ist hier wichtig – denn das komplexe soziale Gefüge indischer Gemeinschaften ist von Region zu Region noch einmal grundverschieden. Nur die „Kastenlosen“, die Dalits, gibt es überall.
So auch in der Freiwilligen-Schule in Jodhpur, die sich den Dalits ebenso wie anderen Gruppen außerhalb der Gesellschaft verschrieben hat, und damit auch Gleichberechtigung, Toleranz und Modernisierung. Warum nur sitzen die Frauen und Mädchen dann in einer solchen Umgebung nach Religion getrennt auf dem Boden, essen getrennt voneinander ihr Mittag und verhalten sich den Lehrern gegenüber höchst unterschiedlich?
Weil Intoleranz und Diskriminierung sich in Indien durch alle Schichten ziehen. Selbst die Dalits, ausgegrenzt vom gesellschaftlichen Leben und Aufstiegschancen, sind nicht immer solidarisch, beispielsweise mit den ebenfalls diskriminierten Muslimen. Das ist die traurige Wahrheit, der sich sowohl indische NGOs als auch weltverbessernde Europäer gegenüber sehen. Durch die gelebten Gemeinsamkeiten, äußere Einflüsse und in erster Linie durch Bildungsprogramme können einige soziale Projekte nicht nur die Möglichkeiten der Teilnehmer, sondern auch ihr Bewusstsein für Andere erweitern. So arbeiten sich manche Stück für Stück durch das bodenlos ungerechte indische Kastensystem. Doch es durchbrechen?
An diesem Februartag in der lokalen indischen NGO steht Besuch an. Zehn junge Studentinnen aus der Hauptstadt Delhi sind auf das Projekt aufmerksam geworden und besichtigen nun die Räumlichkeiten und wohnen dem Unterricht bei. Vorher steht aber natürlich eine große Begrüßungsrunde an; die Schülerinnen auf dem Boden, die Besucherinnen vorne an der Tafel, auf einem Stuhl daneben der Gründer und Vorsitzende der NGO. Er erzählt von der Mission sowie der Situation der Organisation. Die Studentinnen sind gewohnt berührt und richten das Wort an die Frauen: Sie erzählen davon, dass das Kastensystem doch abgeschafft sei, Dalits jeden Beruf ausüben und per Quote sogar leicht in die Stadtverwaltung aufsteigen könnten. Sie malen ein Metropolen-Bild des modernen Indien, motivieren die jungen Frauen, sich zu wehren und ihren Aufstieg selbst in die Hand zu nehmen. Es gäbe keine Diskriminierung aufgrund von Religion oder Status, es gäbe kein Kastendenken mehr, sagen sie. Zugegeben, zehn erfolgreiche, unabhängige Frauen sind schon ein starkes Argument, doch die versammelte Gruppe wirkt wie verstört von den Sätzen, an denen sie alle hängen geblieben sind. Es gibt keine Kasten? Keine Diskriminierung? Per Gesetz?
So weit klaffen die Leben der einfachen Menschen und die Denkweisen der Großstädter auseinander. Die Gesichter des Erfolgs sagen den Ärmsten des Landes, dass alles, was ihr Leben bestimmt, abgeschafft sei. Und sie merken nicht, dass die Kultur der Regionen unabhängig ist von so einem unwichtigen Stück Papier wie der Verfassung.
Es ist nicht so, als seien die sogenannten Unberührbaren unsichtbar für die Politik; ihre Hilfe wird sie nur nicht erreichen, nicht von der Zentralregierung. Ihre Armut zu lindern ist die eine Aufgabe, sie wird langsam aber sicher angegangen und Indien macht Fortschritte, den besserwissenden Kritikern aus dem Westen zum Trotz. Aber das diskriminierende System, das wir Kastenwesen nennen, wird nicht zusammenbrechen. Es ist töricht von uns, dies zu erwarten, wo es doch länger existiert als jede Spur unserer eigenen Kultur. Und, viel wichtiger, wo es doch von denen am Leben erhalten wird, die am Meisten darunter leiden. Denn mit Glaube, Überzeugung und Leid tragen diejenigen, die im System ganz unten stehen, es ideologisch mit – indem sie innerhalb der Kaste heiraten, oder eben nicht mit den Muslimas Mittag essen.
Es gibt eine Viertelmilliarde Dalits in Indien, sie alle sollen gefördert werden, doch viele leben am Abgrund, egal, welches Gesetz beschlossen wird.
250.000.000 – und die Revolution bleibt aus.