Mit Paolo Contes Melodien im Ohr lassen wir das Cabriodach herunter und gleiten durch die sonnendurchfluteten Weinreben und Olivenhaine der Toskana. Wir sind fünf junge Frauen auf einem Roadtrip durch Italien.
Naja, … so ähnlich. Wir kleben bei 41 Grad im Schatten an den abgenutzten Ledersitzen des Opel Kombis meiner Freundin fest. Das Auto hat seine besten Tage hinter sich und scheint unsere Bemühungen, Fenster, Gänge oder die Klimaanlage zu betätigen, als eine Art Kampfansage zu betrachten. Aber fünf junge Frauen auf einem Roadtrip durch Italien sind wir trotzdem. Fünf junge feministische Frauen.
Meine Freundinnen und ich studieren alle Geisteswissenschaften in deutschen Großstädten und haben uns keinem Kampf stärker verschrieben als dem, gegen das Patriarchat. Alix ist Freizeit DJ und Jurastudentin, Bene Coderin und Berghaingängerin, Madlen Architekturfanatikerin, Anin Hobby Tarot-Karten-Legerin und ich begeisterte Soziologiestudentin. Gemeinsam fahren wir jedes Jahr zu Benes italienischen Großeltern in die Toskana.
Kaum haben wir unser erstes Peroni getrunken, lernen wir Tomaso, Luca und Carlo kennen – drei Italiener, die uns von nun an täglich zu Strandparties, Aperitifs und Abendessen bei Freunden einladen. Am Telefon erzähle ich meinem Freund begeistert von ihrer Gastfreundschaft und unserer Verwunderung über ihr Interesse, ständig fünf Deutsche im Schlepptau zu haben. „Nicht fünf Deutsche, Lilly. Fünf Frauen“, entgegnet er mir. Der Satz hallt nach. Hat er Recht? Ist es unser Geschlecht, das uns den Italien-Aufenthalt so vergnüglich macht? Ich nehme den Gedanken mit an den Abendessenstisch zu meinen Freundinnen.
Italien ist zweifelsohne eine extrovertierte und herzliche Kultur, in der Menschen einem oft ohne Hintergedanken den Tag versüßen wollen. Und trotzdem sind wir uns einig, dass wir in diesem Urlaub deutlich zuvorkommender behandelt wurden, als wir es mit Männern in der Reisetruppe worden wären. Für diese Einschätzung sorgen nicht nur Tomaso, Luca und Carlo, sondern auch der Bodega Besitzer, der uns Bruschetta aufs Haus ausgibt, der Kioskverkäufer, der uns eine Tüte Chips zum Bier dazu schenkt, die Bauarbeiter, die darauf bestehen uns beim Einparken zu helfen und die Autofahrer, die uns mit einem Lächeln auf dem Gesicht Vorfahrt gewähren.
Am nächsten Abend frage ich Tomaso, ob die italienische Gesellschaft so sexistisch ist, wie sie in dem Sorrentino-Film „Loro“ dargestellt wird. Hier gelten Frauen als unterwürfige Hausfrauen oder als verführerische, intrigante Wesen – als Madonna oder als Hure. Dazwischen gibt es kaum Spielraum. „Neeeeein!“, versichert mir Tomaso, sichtlich entgeistert von meiner Frage.
Na gut, vielleicht handelt es sich bei Sorrentinos Darstellung um eine gezielte Überspitzung, aber man wird wohl nicht bestreiten können, dass Sexismus und Frauendiskriminierung in Italien tief verwurzelt sind. Das Land liegt auf dem Global Gender Gap Report 2022 des WEF auf Platz 63 von 146, weit abgeschlagen hinter fast allen anderen europäischen Ländern. Vor allem die wirtschaftliche Einbindung und die Entlohnung von Frauen ist in Italien so mangelhaft, dass das Stiefel-Land hier auf Platz 110 landet, unmittelbar hinter Tadschikistan, Ghana und Gambia.
Ich glaube nicht, dass Tomaso den ausgeprägten Sexismus in Italien verneint, weil er bewusst die Unterdrückung der Frau befürwortet. Vielmehr glaube ich, dass die tiefe Verwurzelung der Machismo-Kultur in Italien dazu führt, dass junge Italiener:innen – Männer und Frauen – das Bild der gehorsamen Frau, die vor allem schön sein und ihrem Mann dienen soll, internalisiert haben. „Ciao Bella!“-Rufe auf der Straße werden verniedlicht und als „typisch Italienisch“ abgetan, obwohl es sich dabei, genau wie bei den „Ey, Hübsche!“-Rufen in Neukölln, um die Objektifizierung und Sexualisierung von Frauen handelt. Natürlich kann man die „Ciao Bella!“- Rufe als Schmeichelei betrachten. Man kann auch die aufgehaltenen Türen, die Hilfestellungen in die Jacken und die Komplimente, die einem entgegengebracht werden, als zugewandtes Verhalten werten. Und das tun meine Freundinnen und ich auch. Die italienischen Männer haben uns freundlich, einladend und herzlich behandelt. Und doch empfinden wir dabei einen bitteren Beigeschmack.
Er entstammt aus unserer Ungewissheit darüber, ob wir zuvorkommend oder unterbewusst sexistisch behandelt werden. Im Land der Dolce Vita ist es schwierig, zwischen wohlwollendem Verhalten und wohlwollendem Sexismus zu differenzieren. Letzterer zeichnet sich weniger durch feindliches Auftreten aus, sondern vielmehr durch ein scheinbar beschützendes und helfendes Verhalten. Das erschwert auch den Umgang damit. Natürlich lehnen meine Freundinnen und ich Sexismus ab. Gleichzeitig gibt es keinen Zweifel daran, dass es uns als Gruppe gefallen hat, besonders rücksichtsvoll und zugetan behandelt zu werden. Aber wo verläuft die Grenze? Ist unser Sexismus-Detektor zu sensibel? Und steht es im Widerspruch, Feministin zu sein und gerne aufmerksam behandelt zu werden?
Nein, das tut es nicht. Wohlwollendes Verhalten ist nicht per se sexistisch. Es nimmt erst dann die Gestalt von wohlwollendem Sexismus an, wenn es nur für ein Geschlecht gilt und nicht erwünscht ist, dass Frauen sich in gleicher Weise paternalistisch verhalten. In der männerdominierten italienischen Kultur werden Mädchen vom Kindesalter an sexistische Denkmuster eingeprägt, die Frauen als entzückend, aber auch als schwach, weniger kompetent und schutzbedürftig charakterisieren. Diese stereotypischen Geschlechterrollen werden durch Medien, wie dem Privatfernsehprogramm des Bunga-Bunga-Präsidenten verstärkt und führen dazu, dass Frauen zu Teilen sogar implizit sexistisches Verhalten von Männern einfordern. Sie betrachten die „Ciao Bella!“-Rufe als Bestätigung und sie haben auch das Recht dazu, denn die Einschätzung dessen, was als höflich und was als sexistisch wahrgenommen wird, ist subjektiv. So empfinde ich es zum Beispiel als wohlwollend sexistisch, dass Tomaso darauf besteht, bei 41 Grad sein T-Shirt beim Tischtennisspielen nicht in Anwesenheit von Frauen auszuziehen, während meine Freundinnen sein Verhalten als sehr aufmerksam und respektvoll wahrnehmen.
Diese Subjektivität in der Einschätzung, macht es nahezu unmöglich einen universell anwendbaren „richtigen“ Umgang zwischen Männern und Frauen zu finden. Daher braucht es ihre Einstellungen und Verhaltensweisen zuvorkommend oder unbewusst sexistisch sind und Frauen selbstbewusst festlegen und kommunizieren, welche Verhaltensweisen sie begrüßen und welche sie als implizit sexistisch empfinden.
Nach einer Woche erfüllt von Herzlichkeit und Großzügigkeit, verabschiede ich mich schließlich von meinen Freundinnen, um meinen Freund in Neapel zu treffen. Die Antwort auf meine ursprüngliche Frage erhalte ich auf der Stelle und die Erkenntnis ist ernüchternd: Mit einem Mann an meiner Seite, verabschiedet sich die italienische gentilezza auf der Stelle mit einem kalten „Arrivederci!“