Eine Krankheit geht in der Gesellschaft umher. Nein, nicht die, nein, auch nicht die. Es ist eine unsichtbare, mit langer Historie, sie betrifft mehr Menschen, als sie sollte und meist leiden die Betroffenen und ihr Umfeld, andere können sich langsam anstecken.
“Die kannte ich schon lange bevor sie bekannt wurden”, “Das ist ganz nett, aber halt auch sehr Standard-Stuff, da fehlt mir das Besondere, das Experimentelle”,
“Komm mir bloß nicht mit so’ nem Kitsch!”,
“Ach, das ist dein Lieblingsbuch des Autors? Nicht gerade überraschend, das mag ja jeder…”
Kommen euch diese Sätze bekannt vor? Habt ihr, wenn ihr ehrlich mit euch selbst seid, schon mal selbst etwas Ähnliches gesagt oder zumindest gedacht? Meidet ihr bewusst Dinge, die schon zu populär sind? Erfüllt es euch mit innerer Freude den neuesten unbekannten Stuff zu kennen? Das Ungewöhnliche? Dann leidet auch ihr eventuell unter I.H.A.A.S., dem Internalized Hipster, Annoying Abgrenzungs-Syndrome (Name noch nicht international anerkannt).
Dieses Syndrom habe ich an mir selbst diagnostiziert zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb der letzten Jahre. Und ich sehe es aber auch überall um mich herum. Mainstream steht heutzutage oft als Synonym für “langweilig”, unterschwellig für “schlecht”. In vielen Kreisen wird nur mit scherzhafter Scham zugegeben, dass man etwas mag, das Mainstream ist. Und Kitsch als Greenbergscher Gegenbegriff zu der lobenswerten Avantgarde ist auch durch und durch schlimm, wenn man die meisten befragt. Kitsch ist ein abwertender Begriff. Wer simple Landschaftsgemälde mag, der ist, wenn man Greenberg glaubt, ein dummer Bauer ohne wirkliches Kunstverständnis. In den Kreisen (zu diesen gleich mehr), die der Maxime folgen, dass Mainstream und Kitsch das größte Übel darstellen, gelten entsprechende Gegenteile als anstrebenswert. Gegenteile, mit denen man sich gerne darstellt: Underground oder Avantgarde.
Aber von was für Kreisen spreche ich und viel wichtiger, wieso ist das überhaupt so? Die Diagnose dieses Syndroms ist eine, die nicht auf quantitativen empirischen Daten beruht. Es ist ein Gefühl, eine anekdotische Beobachtung meinerseits. Und trifft daher vorrangig auf die Kreise* zu, in denen ich mich bewege, zu denen ich Zugang habe. Außerhalb meiner Kreise mag es vielleicht komplett anders aussehen.
*Den Begriff Bubble verwende ich absichtlich nicht, die Metapher, die damit assoziiert ist, sehe ich als nicht zutreffen für die über mehrere Milliarden von Knotenpunkten vernetzte Gesellschaft. Kreise sind meiner Meinung nach die bessere Metapher in einem bildlichen Sinne. Kreise können sich überlagern, Bubbles nicht.
Nun aber mal konkret: Ich spreche von den ZUler:innen, speziell natürlich meines Fachbereichs CCM. Ich spreche von dem gymnasialen Bildungsbürgertum der deutschen Großstädte, in meinen Fall Hamburg. Ich spreche von Fangemeinschaften, von Hobby Communities, im Internet und der physischen Welt. Von der Kunst und Kulturszene, und ihrem diskursiven/inszenatorischen Dasein in Zeitschriften und Social Media. Von allen, die sich selbst als leidenschaftlich kulturinteressiert beschreiben.
Das Betrachten dieser Liste an Kreisen lässt dann auch erkennen, unter welchen Umständen Personen an I.H.A.A.S erkranken. Alle diese Kreise haben einen Hang zur Identifikation mit ihren Leidenschaften und Lifestyle. Eine Identifikation, die öffentlich proklamiert und inszeniert wird. Auf diese Identifikation, die Verbindung der eigenen Identität mit der Leidenschaft, folgt dann die Selbstdarstellung, es muss glaubhaft gemacht werden, andernfalls würden doch vielleicht andere zweifeln, oder man sich selbst hinterfragen, ob das alles eine Lüge sei, die eigene Identität nicht so wie gedacht? Eine unmögliche Dissonanz, die umgangen werden muss.
Also bedient man sich der naheliegendsten Methode, um diese Selbstdarstellung glaubwürdig zu machen: Der Abgrenzung der Differenzierung von allen denen, die diese Leidenschaft nicht haben oder als Blender bezeichnet werden können. Eine weitere Gegenüberstellung wird eingebracht. Bedienen kann man sich an gängigen Begriffen der Videospielcommunities: Es gibt den Casual/Normie/Wannabe, und dessen höhergestellten Counterpart den Nerd/Hardcore__/Experten.
Begeben wir uns nun zur beispielhaften Darstellung in meinen persönlichen Haupt-Bereich der kulturellen Leidenschaft, der Musik. Der Casual Listener, so wie er vom Musiknerd entworfen wird, hört unregelmäßig Musik und wenn er es tut, dann auch nur die Spitze des Eisbergs: die Hits, die jeder kennt, was auch immer im Radio läuft oder auf den gängigen Spotify Playlisten ist, den “ausgelutschten” Kram aus vergangen Jahrzehnten, den absoluten Schmalz oder Kitsch. Jene Musik, die geschmacklich leicht zugänglich und weit verbreitet ist. Um sich davon zu differenzieren und nicht auch als Casual Listener dazustehen in den Augen anderer Musiknerds oder allgemein allen Personen, denen I.H.A.A.S. Betroffene ihre Überlegenheit darbieten wollen, muss die eigene Hörgewohnheit möglichst weit weg sein von diesem Stereotyp. Nichts was im Radio läuft, nur jene kleinen Bands, die am besten nur eingeweihte Expert:innen kennen und eben das Experimentelle, dessen komplexe und ungewohnte Klänge das kleine Verständnis der Casual Listener unter Umständen überfordern würde, sie seien so etwas aufgrund der Geschmacksabstumpfung der Charts ja nicht gewohnt. Der Musiknerd mit I.H.A.A.S entwickelt eine Störung, es wird immer weiter gesucht nach der nächsten experimentellen Untergrundband. Mainstream Musik wird absichtlich umgangen oder nur mit einer grundlegenden Ablehnungshaltung gehört, die dem Lied keine Chance gibt.
Ein Auswuchs dieser Einstellung ist das meiner Meinung nach abscheuliche Konzept der “Guilty Pleasures”. Um das klarzustellen: Musik, die ideologisch oder basierend auf den Handlungen der Autoren problematisch ist, kann mal als Guilty Pleasure bezeichnen. Die Musik einer Naziband oder Songs des vor Kurzem in mehreren Fällen des sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochenen R.Kellys sind wirkliche Guilty Pleasures, bei denen es berechtigt ist, Scham zu fühlen. Keine Berechtigung zum Schamgefühl gibt hingegen beim Anhören von “Mainstream Kitsch Pop” wie Britney Spears’ “…Baby One More Time”, “Wannabe” von den Spice Girls, oder “Boomerang” von Blümchen. Das sind einfach gute Songs!
I.H.A.A.S. führt zu einer Last auf Betroffene. Die Last liegt im Aufwand der kontinuierlichen Suche und dem psychologischen Druck, die Leidenschaft zu beweisen. Doch wie bei Zigaretten muss man leider sagen: “Es schadet auch Personen in ihrem Umfeld”. Denn als krankhafte Begleiterscheinung neigen Betroffene zum “Gatekeeping”. Sie sehen sich selbst als Instanz der Entscheidung über legitime und heuchlerische Leidenschaft. Als Hüter des Tores. Wer nur Sims und Candy-Crush spielt, darf sich nicht als Gamer bezeichnen. Wer nur ACDC, Red Hot Chili Pepers und The Strokes hört sei kein “wahrer” Rockfan, und Kafkas Verwandlung lesen zeugt noch lange nicht von einer Person, die wirklich Literatur als Hobby hat – so denken die I.H.A.A.S. Betroffenen. Die Identitässtiftende Abgrenzung wird zur Selbstdarstellung genutzt, die zu einer verletzenden Ausgrenzung führt, die im schlimmsten Fall den Spaß am Hobby für die andere Person zerstört.
Bevor gleich im letzten Schritt die Behandlungsempfehlungen von I.H.A.A.S besprochen werden, noch ein wichtiger Hinweis: Es ist klar, dass die beschriebenen Symptome eine extreme Form des Syndroms darstellen. Aber wie viele echte Krankheiten, die ich hier keineswegs relativieren möchte, gibt es auch bei I.H.A.A.S ein Spektrum. Viele in den beschriebenen Kreisen können gut damit umgehen, auch von mir selbst würde ich behaupten, dass ich nur eine leichte Ausprägung habe. Ich betreibe kein Gatekeeping, kritisiere es vielmehr, wenn ich Gatekeeping mitbekomme. Ich habe keine der eingangs erwähnten Sätze jemals gesagt und gehe offen damit um, dass ich auch Mainstream Kitsch mag. Lange hing hinter mir in meinem Zimmer Hokusais “Great Wave of Kanegawa”, jetzt ist es Caspar David Friedrichs “Eismeer”, beide würde wohl vom Kunstliebhaber mit ausgeprägten I.H.A.A.S. belächelt werden für die den hohen Grad an Bekanntheit und Kitsch. Trotzdem merke ich, wie ich manchmal innerlich die Augen rollen muss, wenn ich mit jemanden rede, dessen Musikgeschmack aus Cro & Annenmaykantereit besteht und zum Thema Horrorbücher erstmal Stephen King erwähnt und mich umso eher freue, wenn ich mit Leuten rede, die richtigen Nischenkram feiern, Sachen die ich eventuell noch gar nicht kenne. Ich denke, in dieser leichten Form finden sich viele wieder, ob bewusst oder unbewusst. Und wenn man es nicht behandelt, können diese Gedanken schnell zu verbalen Äußerung, einer ausgeprägten Variante des Syndroms, werden.
Nun also zur Behandlung: Das Hauptmedikament für I.H.A.A.S ist Selbstreflexion. Die Eigendiagnose, das Überlegen woher diese Veranlagung kommt. Zu hinterfragen, ob Kitsch und Mainstream wirklich schlecht, verwerflich sind. Die Fülle der Werke aus diesem Bereich betrachten, die einem eigentlich doch gefallen. Man sollte außerdem jenen Werken eine Chance geben, die man bis jetzt aufgrund ihrer Popularität oder dem ihnen zugeschriebenen Kitsch umgangen hat. Vor allem aber lässt sich I.H.A.A.S auf der gesellschaftlichen Ebene nur heilen durch unsere individuellen Handlungen in der sozialen Interaktion. Indem wir offen dazu stehen, dass wir Kitsch und Mainstream mögen und uns nicht mit Ironie oder Relativierungen (“Aber eigentlich nur wenn‘s im Radio läuft, haha“) davon distanzieren. Indem wir nicht gatekeepen und andere für solches Verhalten kritisieren. Indem wir alle uns etwas lockerer und offener verhalten. Hoffentlich ist dann I.H.A.A.S bald Geschichte.
Weil Disco ja das angeblich größte Guilty Pleasure ist, voller Kitsch und einst der absolute Mainstream, werde ich in der Zwischenzeit jetzt erst mal einen der spaßigsten Disco Songs aller Zeiten in der Dauerschleife anhören und mit den Lyrics dieses Songs meine Kampfansage gegen I.H.A.A.S. und Plädoyer für mehr Mut zum Kitsch und Mainstream abschließen:
Gotta make a move to a town that’s right for meTown to keep me movin’, keep me groovin’ with some energy Well, I talk about it, talk about itTalk about it, talk about itTalk about, talk aboutTalk about movin'[…]I wanna go (won’t you take me) to FunkytownI wanna go (won’t you take me) to FunkytownI wanna go (won’t you take me) to FunkytownI wanna go (won’t you take me) to Funkytown
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