Drei Jahre nach der Wahl der Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) in Polen kommen bei uns in Deutschland in erster Linie Negativschlagzeilen an: Die Regierung um Jarosław Kaczynski positioniert sich als autoritäres Regime, demokratische Checks und Balances werden untergraben, auf Ebene der Europäischen Union verweigert Polen die Zusammenarbeit. Zunehmend düster wirken die Aussichten – sowohl innerhalb des Landes als auch in Bezug auf die weitere europäische Integration. Ich habe in meinem persönlichen Umfeld – please correct me if I’m wrong! – zunehmend den Eindruck, dass die polnische Gesellschaft pauschal als undemokratisch und nationalistisch, die politische Lage in Polen als aussichtslos wahrgenommen wird. Zeitungsartikel und Dokumentationen bestätigen dieses Bild. Mit dem Ziel, einen eigenen Eindruck zu bekommen, reiste ich also im Juni für drei Wochen ins Nachbarland und besuchte die Städte Warschau, Bialystok, Krakau, Danzig und Duszniki Zdroj, um dort StudentInnen, StiftungsmitarbeiterInnen und JournalistInnen aus allen Lagern des politischen Spektrums zu treffen.
Ohne die Kritik an der aktuellen Regierung und die oft leider sehr berechtigten Befürchtungen in Bezug auf die Destabilisierung der liberalen Grundstruktur des politischen Systems in Polen entkräften zu wollen, möchte ich in diesem Artikel auf zwei Punkte hinweisen, die uns als deutsche Beobachter Polens häufig entgehen, aber Anstoß zur Suche nach persönlichen Kontakten ins Nachbarland liefern. Erstens: Der politische Pluralismus und die Heterogenität der polnischen Wählerschaft (auch und vor allem der PiS-Wähler) wird in Deutschland unterschätzt. Die Gründe vieler Polen PiS zu wählen, sind längst nicht nur auf nationalistischen Überschwang oder fremdenfeindliche Ressentiments zurückzuführen, sondern decken ein breites Spektrum zwischen purem Pragmatismus und ideologischen Überzeugungen ab. Zweitens: Die politischen „Reformen“ und die nationalistische Rhetorik der PiS haben dazu geführt, dass sich Regionalpolitiker und regionale Initiativen in Polen selbstbewusst gegen den illiberalen Kurs der Regierung stellen, oft mit in Deutschland kaum wahrgenommenem Erfolg. Ich möchte vor allem auf diesen zweiten Punkt näher eingehen, indem ich meine Reisebekanntschaften zu Wort kommen lasse.
Cornelius Ochmann, Leiter der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Warschau unterstreicht mir gegenüber die aktuelle Spaltung der polnischen Gesellschaft und erklärt diese vor allem durch die Nachwirkungen der wirtschaftlichen und politischen Transformation Polens nach dem Zerfall der Sowjetunion. Zwar habe Polen insgesamt enorm von diesem Wandel profitiert, er habe jedoch auch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Spaltung mit vielen Verlierern, besonders in ländlichen Regionen produziert. PiS mache sich dieses Ungleichgewicht gekonnt zunutze und gewinne dadurch Stimmen. Aber „es gibt auch eine Wiederbelebung eines kritischen öffentlichen Raumes in den Städten“ und damit eine Hoffnung auf ein liberales politisches Gegengewicht aus der regionalen Politik. Deswegen seien die gerade stattfindenden Kommunalwahlen ein wichtiger „Test für die polnische Gesellschaft“. Momentan wird nur eine der sechzehn Regionalregierungen von einem PiS Abgeordneten geführt. Das spricht einerseits für einen offeneren, weniger nationalistischen Ton auf Ebene der regionalen Politik, anderseits, betont Ochmann, hätte bei der Kommunalwahl ein Sieg in einer einzigen weiteren Woiwodschaft (polnisches Äquivalent zum Bundesland) eine starke positive Signalwirkung für die PiS. Wolfgang Templin, Leiter des Landesbüros Polen der Heinrich-Böll-Stiftung, äussert sich da optimistischer: Die Regionalwahlen würden für die PiS höchstwahrscheinlich unangenehm, viele Städte seien „fest in der Hand“ der konservativ-liberalen Platforma Obywatelska (PO) und die Opposition in Polen schöpfe wieder Hoffnung. Wie erste Hochrechnungen nach der Wahl zeigen, scheinen beide Recht zu behalten: Vor allem in den Städten gewann die proeuropäisch eingestellte PO häufig mit eindeutiger Mehrheit, dennoch konnte die PiS insgesamt um etwa 5 Prozentpunkte an Stimmen zulegen. Der Wahlausgang kann sowohl als Hoffnungsschimmer für die Opposition als auch Sieg für die PiS gedeutet werden.
Kacper Capracki, ein junger Jurist aus Posen, der 2016 eine Mitgliedssektion der Europaunion in seiner Heimatstadt gründete, betont die Relevanz regionaler Selbstverwaltung: „Die regionale Selbstverwaltung ist der gelungenste Aspekt der polnischen politischen Struktur“. Während auf nationaler Ebene Abschottung betrieben wird, beziehen manche Städte und ihre Bürger eine wesentlich offenere Position. Entgegen der gegenwärtigen Polarisierung des öffentlichen Diskurses in Polen „schaffen wir es in der Europaunion Posen, die politische Spaltung zu überwinden und Brücken zu bauen“ – sowohl zwischen verschiedenen innenpolitischen Lagern als auch zwischen Polen und den europäischen Nachbarländern. Auf die Frage hin, warum gerade – und bisher leider ‚nur‘ – in Posen eine Europaunion bestehe betont Kacper, dass die politische Grundeinstellung der Stadtbevölkerung Posens inkompatibel sei mit dem nationalistischen Ton der Regierungspartei: „Wir in Posen lassen uns nicht von nationalistischen Argumenten, die rein aufs Emotionale abzielen, überzeugen. Unsere Mentalität ist rational, sehr pragmatisch und zurückhaltend“. So hätte es gegen die so genannte „Justizreform“ 2017 tagelang Proteste in Posen gegeben, an denen zehntausende Menschen teilnahmen. Dies sei jedoch kein Protest einer spezifischen politischen Gruppe gewesen, den Protestierenden ging es vielmehr es um Zusammenhalt jenseits parteipolitischer Zugehörigkeit. So „durfte ein Oppositionspolitiker, der gegen die Justizreform war, auf dieser Demonstration nicht als Sprecher auftreten, weil keine Parteipolitik von den Teilnehmern erwünscht war“. Genau dieser Aspekt ist Kacper wichtig, denn Polen bräuchte eine Zivilgesellschaft, die überparteilich gegen den fremdenfeindlichen und illiberalenen Kurs der Regierung einstehe.
In der Warschauer Universitätsbibliothek treffe ich Mateusz Mazzini, Soziologe und Mitglied der polnischen Akademie der Wissenschaften. Er warnt vor einer Polarisierung innerhalb der Opposition in Polen und macht mich auf die Kehrseiten des wachsenden politischen Engagements aufmerksam. Meist seien Protestierende nicht vereint in ihrer Forderung nach einer liberaleren, progressiveren Politik, sondern richteten sich gegen andere Gruppen in der Opposition. Mateusz nennt dies „fractured activism“. Er wünsche sich, dass Aktivisten, anstatt ständig gegen andere Oppositionelle und politische Institutionen zu wettern, sich bestehende und teilweise gut funktionierende Institutionen zunutze machten. Die regionale Selbstverwaltung so weit wie möglich auszunutzen und dadurch politische Gegengewichte zum Kurs der Regierungspartei zu bilden, wäre dafür der beste Weg.
Das hofft auch Maya Wojdylo, eine Doktorandin an der Uni Danzig, die ich beim Sitzstreik gegen die geplante Universitätsreform treffe. Sie engagiert sich seit Jahren politisch und beobachtet eine zunehmende Mobilisierung – mehr und mehr Menschen fühlten sich betroffen. Sobald Kaczynski‘s Regierungszeit vorbei sei, werde Polen eine wachere und aktivere Zivilgesellschaft haben: „Wir wissen nun, dass wir uns für einen freien öffentlichen Raum aktiv einsetzen müssen“. Dorian Jędrasiewicz, mit dem ich in Krakau spreche, würde das unterstreichen. Er studiert European Studies mit einem Schwerpunkt auf Deutschland, wir unterhalten uns über die Wahrnehmung Deutschlands in Polen. Deutschland wirke auf viele Polen paternalistisch, erzählt Dorian, die PiS sei gut darin, das zu nutzen und einen Ärger auf Deutschland zu schüren. Dass die „Anti-Deutschland-Rhethorik“ der Regierung, wie Dorian sie nennt, mittlerweile in der Bevölkerung großen Erfolg hat, misst er am Wandel der Reaktionen auf seine Studienwahl. Nicht selten bekäme er seit Neuestem zu hören, dass es doch verrückt sei oder gar verwerflich, etwas mit Bezug zu Europa oder Deutschland zu studieren. Er versuche mit aller Kraft dagegen zu argumentieren, doch das sei nicht leicht. Er macht dafür in erster Linie die politisch gewollte Stimmungsmache in Polen verantwortlich, sieht aber auch Handlungsbedarf auf Seiten der Deutschen.
Tatsächlich könnte sich im zivilen Austausch zwischen Deutschland und Polen noch einiges verbessern. Die Ergebnisse des im Mai 2018 veröffentlichten Deutsch-Polnischen Barometers zeigen auf, dass immer noch 56% der Polen Sympathie gegenüber den Deutschen empfänden, aber nur 29% der Deutschen bekunden Sympathien gegenüber Polen. Zwei Drittel der Deutschen, so das Barometer, hätten zudem weder Polen bereist, noch persönlichen Kontakt ins Nachbarland und planten auch nicht, dies zu ändern. Dass viele Polen den Eindruck haben, Deutsche seien ihnen gegenüber indifferent ist also begründet. Dem gilt es durch mehr persönliche Kontakte entgegenzuwirken, betont Dorian: „in schwierigen Zeiten sollte man die Verbindungen erst recht nicht kappen, sondern stärken!“ Auch hier reiche es nicht, auf zentrale politische Organe zu vertrauen, man müsse viel mehr auf persönlicher und regionaler Ebene selbst aktiv werden.
Es liegt also auch an uns, und in Zeiten des erstarkenden Nationalismus und der Abschottung nicht resigniert abzuwenden, sondern offen das Gespräch und die Kooperation mit Polen in zivilgesellschaftlichen Initiativen zu suchen. Das muss nicht bedeuten, unkritisch gegenüber gesellschaftlichen Problemen und politischen Fehlentwicklungen zu sein, sondern diese zum Gegenstand gemeinsamer Diskussionen zu machen. Polens Gesellschaft ist aktiver und heterogener, als sie in Deutschland wahrgenommen wird. Es gibt also zahlreiche Anhaltspunkte und Möglichkeiten, über Grenzen hinweg Kontakte zu knüpfen und für eine offene, gemeinsame Zivilgesellschaft aktiv zu werden. Gute Nachbarschaft zeichnet sich schließlich nicht nur durch Verträge auf Papier aus, sie will auch gelebt werden.