Lit Contest Platz 1: Backward Dreaming

Am zehnten Tag Baumarbeit trat Ivan wie gewohnt durch die Tür des gelben Hauses. Er klopfte sich Staub und Schnee von den Stiefeln und legte die dicke Kleidung ab. Etwas war anders, das spürte er ganz deutlich. Die Luft war von erwartungsvoller Aufmerksamkeit fein gespannt. Ivan ging wie gewöhnlich ins Wohnzimmer zum Baum, breitete seine Plane auf dem Boden aus und klebte sie mit Malerkrepp fest. Er füllte Gläser mit Wasser und bereitete in seinen Aluminiumschälchen die Farbe vor. Er nahm das Innere des Hauses in sein Bewusstsein auf. Es waren nur Ewa und ihre Schwester da. Sie saßen am Esstisch bei Kaffee. Bei Ivans Ankunft waren sie verstummt, auch wenn Ivan ihre Sprache ohnehin nicht verstand. Er spürte ihre Blicke auf sich. Ab und zu tauschten sie leise Worte miteinander und kicherten. Ivan wollte gerade den Pinsel auf die Wand setzen, da bemerkte er, dass Ewa neben ihm stand. „Du!“, rief sie und richtete ihren Zeigefinger auf Ivans Gesicht. „Du heiraten mein Tochter Marja!“.

Ivan lächelte. Das war vor einem halben Jahr schon einmal passiert, nur mit anderen Worten in einer anderen Sprache. Natürlich konnte Ewa das nicht wissen. Ivan hatte nicht vor, irgendjemanden zu heiraten. Also antwortete er mit „Hm“ und hoffte, Ewa würde sich damit zufriedengeben und ihr Interesse anderen Dingen zuwenden. Ewa jedoch brach in ohrenbetäubendes Gelächter aus und riss ihre Schwester mit. Wie zwei kreischende Raben hockten sie am Tisch und zwischen jedem Lachanfall starrten sie Ivan an, bis Ewa seine Worte wiederholte: „Hm“. Dann ging es von vorne los. Ivan war verwirrt. Er lächelte weiter und nahm demonstrativ einen Schluck von seinem Kaffee. Ewa sprang auf und kam zurückgelaufen. „Und in ein Jahr – Sie schwanger!“, rief sie und zog mit der Hand einen dicken Bogen vor ihrem Bauch. Dann verfiel sie erneut in schrilles, kreischendes Lachen und rannte zu ihrer Schwester zurück. Ivan lachte mit. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können.

Dann begann er mit der Arbeit am Baum. Die schwarze Untermalung war abgeschlossen. Der Stumpf hatte wachsen dürfen, war aufs Neue zum Leben erweckt worden. Ivan hatte zunächst transparent violetten, geisterhaften Ästen und Zweigen nachgespürt und so die Idee einer neuen Krone geschaffen. Anschließend hatte er ihr mit Schwarz Substanz verliehen, sie in Farbe und Struktur mit dem verbunden, was Ewa dereinst mit einem schwarzen Marker an die Wand gezeichnet hatte. Das Ergebnis, fand Ivan, war der Schatten eines Baumes. Als nächstes brauchte er einen Körper. Mit einem feinen Pinsel hob er Schicht für Schicht die Strukturen der Rinde hervor. Als Ivan die ersten zehn Zentimeter des Stammes überarbeitet hatte, hielt er inne und blickte für einen Moment auf den Baum. Er lächelte. Der Baum bekam Frost.

*

Anfang Oktober ankerte das letzte Schiff des Jahres im Hafen. Alle jungen Menschen des Ortes halfen beim Entladen. Bis zum Spätsommer des kommenden Jahres würde kein Frachtgut es mehr durch das dicke Eis bis hierher schaffen. Nur der Helikopter verband dann noch den Ort mit der Welt draußen und das auch nur bei gutem Wetter. Bei schlechtem Wetter war der Ort abgeschnitten. Am Abend verabschiedeten die Menschen im Ort das Schiff mit Raketen. Ivan hatte eben die Arbeit am Baum für heute beendet, als er aus den großen Fenstern des Wohnzimmers das Feuerwerk über der Bucht sah. Kurz darauf ertönte das Schiffhorn zum Abschiedsgruß. Er spürte eine allgemeine Melancholie. Der Ernst des Winters hatte begonnen. Er spülte die Wassergläser aus und entfernte Farbreste aus den Schälchen. Wie immer lag der Geruch frisch gebrühten Kaffees in der Luft. Ewas Mann Javek hatte ihn eben aufgesetzt und den Nudeleintopf vom Mittagessen aufgewärmt. Marja und ihr Bruder waren unten beim Schiff gewesen. Nun kamen sie den Hügel herauf, müde, verschwitzt, die Gesichter rot vom kalten Wind. Sie aßen Unmengen von Eintopf und lachten miteinander. Ivan hätte gerne verstanden, worüber sie sprachen. Am Morgen, übersetzte Jawek plötzlich, sei ein Eisbär durch den Ort gestreift. Vorbei an Marjas Haus. Ivan blickte neugierig zu Marja, die ihn beiläufig musterte. „Wohnst Du nicht hier?“ fragte er. „Doch, aber ich habe ein Haus. Im Moment ist es leer, aber es zieht wieder jemand ein. Die Spuren führen direkt an der Veranda vorbei.“ „Da sind keine Hunde“, warf Ewa ein. „Wo Hunde leben, keine Eisbären!“ „Morgen kann ich sie Dir zeigen“, sagte Marja. „Die Spuren. Mein Haus ist zwei neben deinem.“ Ivan überlegte einen Moment. „Könnte ich dann nicht jederzeit einem Eisbären begegnen?“, fragte er Jawek. Der schwieg und starrte an die Wand. Ivan konnte die Stille nicht entschlüsseln. Er blickte zu Marja. „Nein, aber wenn du einem begegnest, darfst du keine Angst haben.“, sagte sie. „Wie soll man denn keine Angst haben, wenn man einem Eisbären begegnet?“, fragte Ivan. „Man kann sich innerlich vorbereiten. Oder eine Waffe dabeihaben. Ich fürchte mich nicht so sehr vor Eisbären.“ Marjas Tonfall wies darauf hin, dass sie etwas anderes fürchtete. „Nein“, sagte Jawek, „Eisbären sind nicht das Schlimmste, dem man hier begegnen kann.“ „Wovor fürchtest du dich?“ Fragte Ivan. „Vor Walrössern“, sagte Marja und tauschte einen Blick mit ihrem Vater aus. „Wenn man in die Wildnis geht, findet man manchmal Robben mit Löchern im Bauch am Strand“, sagte Jawek gedämpft, als würde er Ivan ein Geheimnis mitteilen. „Ein grässlicher Anblick. Die Walrösser stoßen sie von ihrer Eisscholle und saugen ihnen die Gedärme heraus. Die schmecken wohl am besten.“ Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. „Die Kanus der Jäger sind nur aus dünner Robbenhaut. Einem Walross zu begegnen ist wirklich das Schlimmste, was einem Jäger auf dem Meer zustoßen kann. Sie gleiten unter der Oberfläche im Dunkel und beobachten ihn. Sie schlitzen das Boot auf oder werfen sich dagegen bis es sinkt und der Jäger ins Wasser fällt. Dann saugen sie ihn aus. Unsere Familie hat viele Jäger an Walrösser verloren“, fügte er hinzu. „Ewas Teil jedenfalls.“ Ivan schauderte, bedankte sich für das Abendessen und verabschiedete sich höflich. Draußen hatte der Wind an Stärke gewonnen. Für die nächsten Tage war Sturm angesagt. Im Winter würden immerzu Schneestürme über das Land fegen, hatte Jawek ihm mitgeteilt. Man müsse gründlich vorbereitet sein. Manchmal stürme es nur ein oder zwei Tage, manchmal bliebe der Sturm über Wochen. Vorhersagen könne man das nicht genau. Schnee knirschte unter Ivans Stiefeln. Die Nacht war klar und kalt, kälter als alle davor. Ivan zitterte, als er das Schloss zu seinem Haus aufsperrte. Auch im Haus war es kalt. Die Kälte kroch hinein, drang wie unsichtbarer Schnee unablässig durch Fensterritzen und Schraubenlöcher und sammelte sich in den Ecken. Ivan drehte den Ofen auf und kochte Wasser für Tee. Dann wickelte er sich auf dem schmalen Feldbett in eine Decke ein und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Die Dielen schienen wie eine dünne Schicht über einem tiefen Abgrund aus eisigem Wasser. Als könnte jederzeit ein Walross mit seinem Kopf hindurchbrechen um ihn hinab zu ziehen. Auch wenn er wusste, dass unter seinem Haus fester Fels war, kam ihm diese Möglichkeit seltsam real und bedrohlich vor. Er schüttelte den Kopf und schaltete Musik an.

*

Am späten Abend fauchte es im Ofen. Dann verstummte das Knistern des Feuers. Der Wind hatte mit einem Stoß die Flamme ausgeblasen. Ivan zündete das Feuer erneut an und stellte die Ölzufuhr etwas höher, sodass die Flamme stärker war. Anschließend goss sich einen Tee auf und setzte sich ans Fenster. Die Lichter der Laternen waren grünlich orangefarbene Wolken, trübe und milchig im dichten Schneegestöber. Noch konnte man sie auch auf der Seite des Flussbettes erkennen. Immer tanzten Raben im Wind, sogar jetzt. Ob sich die Raben hier oben überhaupt vor irgendwas fürchteten? Seine Nachbarn schauten noch einmal nach den Hunden. Er beobachtete das gleichmäßige Schaukeln ihrer Stirnlampen. Der Wind nahm beständig an Kraft zu. Aus dem gelegentlichen Fauchen wurde ein lautes unablässiges Gebrause und Getöse. Ivan sah mehrmals nach dem Feuer, aber es schien die Böen unbeschadet zu überstehen. Dann war der Sturm da. Das ganze Haus geriet in Bewegung, als ob es von gigantischen Händen hin- und her gedreht und geschüttelt wurde. Ivan sah aus dem Fenster. Das Dorf auf der anderen Seite des Flusses war nicht mehr zu sehen. Auch das Haus seiner Nachbarn war verschwunden. Vage ließ sich der Schimmer der nächsten Straßenlaterne erahnen. Ohne sie, dachte Ivan, wäre hier pechschwarze Nacht. Dann wäre der Sturm nichts als eine überwältigende sinnliche Erfahrung, die mein Verstand nie und nimmer erfassen könnte. Und dann kommen die Eisbären um zu jagen. Er spürte seine eigene Angst. Wie ein riesiger schwarzer Schatten hockte sie mitten in der Küche und starrte ihn wortlos an. Ivan starrte zurück, bis ihm einfiel, dass der Windfang nicht abgeschlossen war. Schnee würde durch die offene Ritze der Tür hineinwehen und über Nacht den Raum mit Schnee füllen. Ivan stand auf, nickte der Angst zu und schritt mitten durch sie hindurch hinaus in den Windfang.

Am Morgen stürmte es noch immer und so arbeitete Ivan eben unten in seinem Haus. Er füllte kräftige Farben in die Schälchen und setzte schnelle, klare Striche aufs Papier. Wo er Farbe übrig hatte, strich er sie auf einem einzelnen Bogen ab. Über den Tag entwickelte sich dort ein eigenes Bild, veränderte sich mit jedem Abstrich. Wann immer Ivan bei der Arbeit innehielt, blickte er darauf. Vor seinen Augen nahmen Bilder darin Form an. Ein Walross. Es schien umwickelt zu sein, wie eine Mumie. Große schwarze Balken sperrten es in einer Ecke des Bildes ein. Auf einmal bemerkte er Marjas Gesicht in dem Bild. Ohne zu überlegen griff er nach einem Stift und zog die Konturen nach. Ohne Zweifel, das sah aus wie Marja. Aus ihrem Kopf schienen Flammen zu schlagen. Das Walross konnte nicht zu ihr. Je länger er auf das Bild schaute, desto unruhiger wurde Ivan. Schließlich drehte er es um und legte es unter einen Stapel Skizzen. Dann stellte er Musik an und kochte Wasser, mit dem er sich einen Nescafé aufgoss.

*

Nach zwei Tagen war der Sturm vorbei. Der Wind hatte allen lockeren Schnee hinaus aufs Meer geweht. Der Weg ins Dorf bestand wieder aus blankem Geröll und um Ivans Haus lagen die großen Felsen frei. Am späten Morgen kam Marja mit zwei Gewehren. „Zu dieser Jahreszeit jagen noch Eisbären im Sturm. Wenn Du hochkommen musst, ist es doch besser Du hast ein Gewehr dabei.“, sagte sie und legte die Waffen auf den Tisch. Ivan war eben dabei sich vorzubereiten um am Baum zu arbeiten. „Damit kann ich nicht umgehen!“, sagte er entschieden und zeigte auf eines der Gewehre. „Warum gleich zwei? Sind die scharf?“ Der Lauf der Waffe war ins Wohnzimmer gerichtet. Ivan scheute sich vor dem Gedanken, daran vorbei zu gehen. Marja lachte. „Nein, hast Du Angst davor? Da sind keine Patronen drin. Die nimmt man immer raus. Ich zeige dir das.“ Ivan schüttelte den Kopf. „Später vielleicht.“, sagte er. „Können wir die da wegnehmen? Ich mag keine Waffen.“ Marja zuckte mit den Schultern und lehnte die Waffen an die Wand. „Später, wenn Du fertig bist, können wir rausfahren und schießen üben.“, sagte sie. „Wenn es dann noch hell ist.“, fügte sie nach einer Weile hinzu. Ivan dachte nach. Unter den gegebenen Umständen mochte es besser sein, zu wissen, wie man eine Waffe gründlich entschärfte. Wo sie eh schon mal im Haus war. Und wenigstens so gut zielen zu können, dass man einen Menschen sicher verfehlte. „Ich kann schon mittags Schluss machen!“, rief er und zog sich die Stiefel an. Marja war schon aus dem Haus. Im Windschatten der Treppe zündete sie sich eine Zigarette an. Ivan sah ihr nach. Er ließ versuchsweise einen Stoß Atem entweichen, zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg den Hang hinauf zum gelben Haus.

An diesem Morgen war Ewa sichtbar ermattet und schläfrig. Über Nacht sei ein Geist in Marjas Haus aufgetaucht und habe versucht, die Bewohner darin einzusperren, ließ sie Ivan erklären. Wann immer sie versucht hätten, das Haus zu verlassen, seinen Tassen geflogen und sie hätten sich nicht mehr bewegen können. Sie, Ewa, habe den Geist hinausgeworfen. Daher sei sie so müde. Ivan hörte zu. „Wie kommt der Geist in das Haus?“ fragte er Jawek, der es für Ewa übersetzte. „Er hängt dazwischen.“, ließ sie Ivan erklären und zeichnete etwas mit den Händen in die Luft. „Wir kennen ihn, er hat früher in dem Haus gelebt. Ein unangenehmer Mensch. Jetzt will er nicht auf die andere Seite gehen. Will nicht loslassen. Und er mag keine Frauen im Haus, deshalb ist er so wütend geworden, denn der Mann dort hat jetzt eine Freundin.“ „Der Geist war wütend.“, sagte Ivan nachdenklich und Ewa nickte.„Ja.“, sagte sie nachdrücklich. „Wo ist er jetzt?“, wollte Ivan wissen. Ewa blickte Jawek verständnislos an, als dieser übersetzte. „Der Geist.“, fügte Ivan hinzu. „Auf der anderen Seite natürlich.“, erklärte Jawek geduldig. „Ewa hat ihn rausgeschmissen. Rausgetreten“, sagte Jawek, übersetzte es für Ewa und beide brachen in schallendes Gelächter aus.

Zu Mittag beendete Ivan die Arbeit am Baum und wartete draußen auf Marja. Wo die Wolken aufgebrochen waren, schien weiß leuchtender Nebel über der Küste zu liegen. Die sanften Hügel ferner Felsinseln lagen wie schlafende, weiß leuchtende Wale im stillen Meer. Eine Landschaft wie ein furchtbares Märchen, dachte er. Marja kam den Hang hochgefahren und hielt eine Tüte. Wortlos brachte sie sie an Ivan vorbei ins Haus. Nach einer Weile kam sie wieder heraus, ging zum Quad zurück und blickte zu Ivan. „Lass uns die Gewehre holen!“, sagte sie.

„Meine Tante hört Stimmen und sieht Gesichter in den Wänden.“, sagte Marja, als sie unten an Ivans Haus angekommen waren. Ich musste noch zum Krankenhaus, Medizin für sie holen.“ Ivan runzelte die Stirn. „Und wenn da wirklich Stimmen sind?“, fragte er vorsichtig. „Wie in deinem Haus?“ Marja hielt inne und musterte Ivan. „Was für Stimmen in meinem Haus?“, fragte sie. „Na, der Geist gestern Abend.“, sagte Ivan. „Woher weißt Du davon?“, wollte Marja wissen. „Deine Mutter hat es mir erzählt.“, entgegnete Ivan. „Einfach so?“, fragte Marja. „Einfach so, ja.“, Ivan nickte. „Ich hab sie nichts gefragt. Was ist also, wenn wirklich ein Geist in ihrem Zimmer ist und nur sie den sehen kann?“ Marja schüttelte energisch den Kopf. „Sie hat das schon lange. Am Anfang dachte meine Mutter auch, es wären vielleicht Geister im Haus. Aber wir sind beide in ihr Zimmer gegangen, meine Mutter und ich und haben gespürt. Da war nichts. Also bekommt sie Tabletten.“ „Spürt man, wenn ein Geist im Haus ist?“, hakte Ivan nach. Marja mochte nicht antworten, das konnte Ivan deutlich wahrnehmen. „Wenn man offen ist.“, sagte sie ausweichend. „Wenn Du es kannst.“ „Kannst Du in meinem Haus auch irgendwo einen Geist spüren?“, wollte Ivan wissen. „Nein“, sagte sie, „In deinem Haus ist alles leer. Im guten Sinne.“ „Das ist ja gut.“, sagte er und war aufrichtig erleichtert.

Er ging ins Wohnzimmer und zog sich seinen leuchtend orangefarbenen Polaranzug über. Marja war ihm gefolgt. Als er sich zu ihr umdrehte, lachte sie. „Teletubby“, sagte Ivan. „Teletubby“, wiederholte Marja und griff nach den Gewehren. „Teletubby Bumm?“

Dann kippte das Universum um.

Ivan saß auf dem schmalen Bett im Wohnzimmer. Es fiel ihm schwer, sich an die letzten Tage zu erinnern. Sie waren schießen gewesen und einen Berg hoch und runtergefahren, Marja und er. Hatten einen Film geschaut, er hatte Marja bei sich übernachten lassen. Auf dem anderen Bett natürlich. Marja hatte sämtliche Kleidung angelassen. Am nächsten Tag waren sie mit dem Quad durch den Ort gefahren, hatten auf dem gefrorenen Hubschrauberlandeplatz Kreise gedreht. Er war müde gewesen, wie immer, seit er am Baum arbeitete. Marja hatte ihn zuhause abgesetzt. Aber etwas später war sie zurückgekommen. Sie hatten über Geister geredet. Und irgendwann miteinander geschlafen. Ivan rieb sich die Schläfen. Ziemlich oft, glaubte er. Seine Erinnerung schien beiseite zu weichen, wenn er sich darauf konzentrieren wollte. Alles war unwirklich, das Haus, die riesige Wirbelsäule an der Wand. Die Raben im Wind, der Moschusochsenschädel. Geister in Nachbarshäusern. Alles müde, alles seltsam. Marja schlief auf dem anderen Bett. Ivan ging Wasser holen. Seine Beine wollten bei jedem Schritt mit dem Boden verwachsen. Als er zurück kam war Marja aufgewacht. Sie lächelte matt. Ivan goss Wasser in den Kocher und stellte ihn an. Dann nahm er zwei Tassen und löffelte Instantkaffee in beide und Milchpulver in eine. Marja trank ihren Kaffee schwarz und stark. „Wie fühlst Du dich?“, fragte Ivan. „Komisch“, sagte Marja, „Schlafwandlerisch.“ „Ich fühl mich genauso.“ Ivan setzte sich auf das andere Bett. „Fühlst Du Glücklichkeit?“ „Ich weiß nicht.“, antwortete Marja. „Ich fühle mich verwirrt. Und müde.“ Das Wasser kochte, der Kocher schaltete sich aus. Klick. Ivan stand auf, goss Kaffee auf und brachte Marja ihre Tasse. Er war nervöser als jemals zuvor. Wackelig. Ich bin wackelig, dachte Ivan. So sollte es sich eigentlich nicht anfühlen. Oder? „Sollten wir nicht glücklich sein?“, fragte er Marja. Marja starrte ihn an und zuckte mit den Schultern. „Ich bin zu müde für sowas.“, antwortete sie und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen.

*

Es verging viel mehr Zeit als sollte. Beziehungsweise, es war mehr Zeit in der Zeit enthalten als Ivan es gewohnt war. Die Tage waren innen länger als außen, alles geriet durcheinander. Ivan versuchte, seine Empfindung in klare Worte zu fassen, aber er brachte es nicht auf den Punkt. „Das liegt an den alten Schamanen.“, sagte Marja. Sie saß hinter Ivan auf dem Sofa und sah ihm bei der Arbeit zu. „Zumindest sagt das meine Mutter. Sie waren mächtig, sie haben die Zeit langsamer gemacht und irgendwas mit der Energie im Boden angestellt. Wenn der Schnee fällt, ist er ganz weich. Dann am nächsten Tag ist er hart wie Beton. Aber nur hier im Ort. Draußen in der Natur, wenige Meter hinter den Häusern, wird der Schnee wieder normal.“ Ivan wollte es nicht glauben, aber es stimmte ja, im ganzen Ort wurde der Schnee über Nacht hart wie Beton. Am Abend lief Marja mit ihm ein Stück in die Wildnis und wie sie es beschrieben hatte, sank Ivan bereits nach wenigen Metern wieder ein. Er blickte zurück. Aus der Ferne war der Ort eine Insel bunter Farben in der unendlichen Weite aus Nacht. Die Laternen im Ort hatten alle verschiedene Lichttöne, jede ihre eigene. Es sah herrlich lebendig aus, buntes Konfetti auf Schnee. Die Schatten ganz blau, bis sie violett und dann schwarz wurden. Ivan hätte gerne jemandem davon erzählt, aber er war zu weit weg. Ohne Verbindung. Auf dem Packeis und in den Bergen dagegen existierte nur Schwärze voller Risse und Eisbären. Etwas beunruhigenderes als das Verschwinden der Lichtkreise der Laternen am Ufer nach wenigen Metern konnte es kaum geben. Wir sind auf dem Grund eines eiskalten Meeres, dachte Ivan. Walrösser jagen uns. Wenn sie einen erwischen, reißen sie ihn auf und saugen die Seele heraus. Was ist das Gefäß der Seele?

Irgendwie hatte er den Eindruck, schon sehr sehr lange hier zu sein. Die Tage sanken wie Schneeflocken auf seine Seele, deckten alles mit einer dicken weißen Decke zu, während er am Baum arbeitete und Marja auf dem Quad irgendwo über den Schnee raste. Oder was auch immer sie sonst tat. Ivan wusste nie, wo sie war. Bis sie plötzlich vor ihm stand.

„Dein Baum wirkt lebendig.“, sagte Marja unvermittelt. „Er ist lebendig, für mich.“, sagte Ivan. „Vielleicht nehme ich das ein bisschen zu ernst, aber manche Bilder von mir sind lebendiger als andere. So als wäre etwas darin.“ Er lächelte und nahm die warme Teetasse wieder in die Hand. „Als ich jünger war, habe ich mal eine Weile Monster gezeichnet. Einige musste ich mit dem Bild nach unten auf den Tisch legen, sonst konnte ich nicht schlafen. Der Baum ist jedenfalls so eines.“ Marja wollte wissen, wie man Monster in Bildern wieder zerstören konnte. Das war eine gute Frage, fand Ivan. Wie ob man Träume ungeträumt machen konnte. Oder Prophezeiungen rückgängig. Ivan setzte sich im Wohnzimmer auf den Tisch ans Fenster und dachte nach. Wind wirbelte den Schnee wie Gespenster durch die Landschaft. Rückwärts träumen, dachte Ivan. „Ich glaube gar nicht“, antwortete er, „aber ich bin mir nicht sicher.“

Die Arbeit am Baum war mühsam. Jede Rindenfurche auf jedem noch so feinen Ästchen musste mehrmals nachgezogen werden. Strich für Strich, Schicht über Schicht. Dann nochmals, um Licht entstehen zu lassen. Licht, dachte Ivan. Das Licht zurückbringen. Der Gedanke entglitt ihm, schwebte über seinem Kopf und verließ den Raum. Etwas blieb nahe an seinem Ohr, aber er konnte es nicht hören.

Einmal stand Ewa unvermittelt vor ihm und bedankte sich. „Wofür?“, wollte Ivan wissen. Aber er erhielt keine Antwort.

Abends ging Marja mit ihm den Weg hinab zum Haus, ein Gewehr über der Schulter, und blieb über Nacht. Es war ganz nebenbei zu einer festen Routine geworden. So wie der Schnee, dachte Ivan. Erst war es weich, man sank darin ein. Und dann, nach einiger Zeit ist es fest geworden. Keiner kann sagen wie, aber jetzt ist es hart wie Beton.

*

Am diesem Tag schneite es dicht. Mit jeder Flocke veränderte der Ort sein Gesicht. Straßen verschwanden, zwischen frisch aufgewehten Hügeln entstanden neue Wege. Häuser schienen plötzlich ebenerdig, die Eingangstreppen waren unter dem Schnee begraben. Die Jäger verlängerten die Ketten ihrer Hunde und schaufelten die Wände ihrer Häuser frei. Der Schnee war wie Sand, er klebte überhaupt nicht zusammen. Am nächsten Tag würde trotzdem wieder zu Beton geworden sein. Superstrange, dachte Ivan, als er mit Marja durch den tiefen Schnee hinauf zum gelben Haus stapfte. Marja kam im Schnee gut voran. Woher nahm sie nur diese Kraft? Bereits auf halber Strecke fühlten sich seine Beine an wie Blei und der freiliegende Teil seines Gesichtes war taub vor Kälte. Marja hingegen schwitzte, wenn sie oben ankam. Wenn Ivan nicht neben ihr ging, etwa weil er bereits oben war, lief sie im Schnee doppelt so schnell. Er konnte das manchmal aus dem Fenster beobachten. Marja war schon früh aufgewacht und hatte Ivan von einem Traum berichtet. Darin hatte sie mit Ewa geangelt und große Fische mit riesigen Mäulern herausgezogen. An ihnen war etwas Gelbes gewesen. Ewa hatte ein Schatzkästchen geangelt, das zu öffnen sie nicht in der Lage gewesen war. Marja hatte es für sie geöffnet und große Muscheln darin gefunden, auch mit was Gelbem darauf. Der Traum war ihr wichtig vorgekommen und nach einer Weile hatte sie sich entschieden, ihrer Mutter davon zu erzählen. Ivan hatte beschlossen mitzukommen, er war zu neugierig geworden. Ewa und Javek saßen am Tisch. Frisch aufgebrühter Kaffee dampfte aus einer offenen Kanne. Leise, mit sanften Worten erklärte Marja Ewa, was sie in der Nacht geträumt hatte. Als sie fertig war, lag für einen Moment Stille im Raum, niemand sagte ein Wort.

Dann kippte das Universum erneut.

Ewa geriet völlig außer sich. Sie kreischte, warf die Hände in den Himmel, schrie irgendwas in der alten Sprache hinaus aufs Meer. Sie redete mit Marja wie ein Wasserfall während Ivan danebenstand und das Geschehen zu fassen versuchte. Jawek hatte sich mit einem Lächeln zurückgezogen. Ewa rannte durchs Wohnzimmer, hämmerte an die Tür ihrer Schwester, rief ihr etwas ins Zimmer. Gedämpftes Kreischen drang als Antwort zurück. Schließlich trat sie zu Ivan und sandte Handküsse zu seinem Gesicht, nahm seine Hände, murmelte Worte, die er nicht verstand, Tränen in den Augen. Ivan fühlte tiefe Verunsicherung. Was immer das hier war, er war sich sicher, nichts damit zu tun zu haben. Marja zog ihn zur Garderobe. „Lass uns gehen!“, sagte sie. „Ich hätte es ihr nicht erzählen sollen.“ Draußen atmete sie tief durch und zog eine Zigarette aus der Jackentasche. Ivan blickte sie fragend an. Marja nahm ein paar Züge und blies den Rauch hinaus in die Landschaft. Dampf stieg aus ihrem Kragen auf und bildete Raureif auf ihren Haaren. „Meine Mutter hat so in etwa gesagt, Du seist der Richtige. Ob ich schon schwanger bin. Und dass unser erstes Kind ein Sohn wird oder eine sehr große, starke Tochter. Blond. Die Fische, das ist unser Kind und die Schatzkiste warst du. Sie hätte dich gefunden, aber der Inhalt sie für mich bestimmt gewesen.“ Marja schritt energisch voran. „Ich mag sowas nicht.“, sagte sie. Dann hielt sie abrupt an. „Warte hier, ich will das Quad holen. Ich muss fahren.“

Ivan stieg hinter ihr auf den Sitz. War das ein gültiger Schwangerschaftstest? Fragte er sich, während sie einige viel zu schnelle Runden durch den Ort drehten. Mehrmals rutschte das Quad auf dem festgetretenen Schnee einfach weg, aus Kurven, zwischen Häusern hindurch. Nach einer Weile stellte Marja den Motor ab und begann zu laufen. Ivan lief einfach mit, was auch sonst. Sie liefen eine Ewigkeit im Kreis, immer denselben Weg. Die Sonne ging unter. Ivan fühlte sich seltsam, die ganze Zeit. Als würde etwas über ihm schweben. Um den Mond hatte sich ein Kreis gebildet. Ivan kniff die Augen zusammen und erkannte die Farben des Regenbogens. Ein dunkler Regenbogenkreis.

*

Dann, eines Morgens Anfang November, begannen Marjas Brüste zu schmerzen. Marja beklagte sich darüber. Sie waren auch wärmer als sonst und, wenn Ivan sich nicht sehr täuschte, etwas größer. Auf dem Meer hatte sich neues Eis gebildet. Gemeinsam liefen sie zu Fuß hinaus in die Bucht. Das Licht, das nun immerzu wie Sonnenuntergang aussah, es ließ das Eis in alles Farben des Regenbogens schimmern. Im Schweigen war die Stille der Natur atemberaubend gewaltig. Da, leise, hörte Ivan es zwitschern. Aus tausenden Kehlen winziger Kanarienvögel, kaum wahrnehmbar und doch unüberhörbar, jetzt da er darauf aufmerksam geworden war. So lebhaft und munter, so fröhlich. Das ist das Eis, sagte Marja, die Ivans überraschte Begeisterung bemerkt hatte. Die feinen Eisschollen werden vom Meer bewegt. Es ist wunderschön sagte Ivan.

Marja schien etwas anderes bemerkt zu haben. Hinter einem kleinen Schneeberg lag ein umgedrehtes Boot. Als Ivan näher kam, bemerkte er den leuchtend roten Fleck im Schnee. Eine große Lache frisches Blut. Marja lachte. Da hat jemand Glück gehabt, rief sie. Glück? Fragte Ivan. Na, eine Robbe erwischt. Seine Familie hat zu essen. erklärte Marja stirnrunzelnd. Ivan schwieg und starrte auf das Blut. Es musste eben noch warm gewesen sein. Er meinte, winzige, schwirrende Dinge zu spüren, die mit dem Blut in Verbindung standen. Sie starben, verblassten. Wie schmelzende Schneeflocken, dachte Ivan und fröstelte erneut.

Marjas Brüste wuchsen tatsächlich. Bald schienen sie kaum noch in die Körbchen ihrer BHs zu passen. Deutlich zeichneten sie sich unter ihrem Pullover ab. So, dachte Ivan. Nun bin ich also hier und ein Mädchen ist schwanger. Von mir. Er schüttelte den Kopf. Wer weiß dachte er. Vielleicht haben wir auch nur zu oft darüber geredet. Oder sie glaubt ihrer Mutter allzu sehr. Es ist besser, nicht dauernd darüber nachzudenken. Sonst verliere ich hier noch den Verstand. Irgendwann liegt all dies hinter mir, dann bin ich zurück. Zurück wo? Der Gedanke erfüllte Ivan mit Traurigkeit. Seine Insel fiel ihm ein. Dort erzählten Lieder von der unmöglichen Sehnsucht, noch demselben Menschen ein zweites Mal zu begegnen. In dem Moment, in dem man auseinander ging, wo einer die Insel verließ, begann die Veränderung. Man konnte zurückkehren, aber nie als derselbe Mensch, der sie verlassen hatte. Und auch die Zurückgebliebenen trieb das Leben weiter, in andere Umstände. Ich bin traurig, weil ich glücklich gewesen bin, dachte er. Wäre es mir schlecht gegangen, würden diese Gedanken mir vielleicht Trost spenden. Die Küste fern auf der anderen Seite der Bucht lag metallisch blau unter schweren, dunkelgrauen Wolken. Ivan war mit der Arbeit am Baum beschäftigt und blickte ab und zu aus dem Fenster. Er war fast fertig. Zuletzt hatte er eine Schicht transparentes Braun aufgetragen, nun gehörten Stamm und Äste wieder in diese Welt. In die der Farben. Es fehlten nur Knospen und Blätter, dann war er wieder am Leben. Eigentlich, fand Ivan, waren die wenigen Stunden Licht am Tag zu schade, um auf eine Wand zu starren und einen Baum zu malen.

Plötzlich entschied Ewa, dass der Baum fertig war. „Keine Blätter?“, fragte Ivan überrascht. „Nein, fertig!“, rief sie entschieden und begann, das Abendessen vorzubereiten.

Ivan stand wie erstarrt. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Es war falsch, ganz falsch. Der Baum war hier, aber er konnte nicht atmen. Er war sich sicher, dass er unfreiwillig zum Helfer einer Grausamkeit gemacht worden war. Der Baum hätte leben sollen, dann wäre die Heilung vollendet gewesen. Energie wäre geflossen. Nun durfte der Baum weder leben noch sterben. Das brachte Ivan völlig durcheinander. Überstürzt packte er Farben und Pinsel ein, vergaß die Schälchen auszuspülen. Braune Farbe würde nun durch die gesamte Plastikfolie laufen, aber das war ihm egal. Er wollte weg, raus aus diesem Haus, weg von Ewa und fort vom Baum.

Als Ivan das Haus schließlich verließ, zogen Polarlichter über den Himmel. „Schamanenzeit!“, sagte Javek und deutete in den Himmel. Er pfiff, Zigarette im Mundwinkel, auf der Veranda vor dem gelben Haus. Ein merkwürdiges, wellenartiges Pfeifen. Riesige grüne Bänder wanden sich langsam über den Himmel. Manchmal schienen sie zum Greifen nah, direkt über ihren Köpfen, mit rotvioletten Rändern, dann wieder fern zwischen den Sternen, fast weiß. „Die roten sind besonders selten.“, hatte Marja erzählt.

„Vielleicht wird unser Kind ja ein Schamane.“, hatte Ivan geantwortet. Er hatte es als Scherz gemeint, aber Marja hatte nicht gelacht. Und Ivan dann eben auch nicht mehr.