Fragen über… Gerechtigkeit

Reformiert wird an allen Ecken, sei es im Hochschul-, Asyl- oder Wirtschaftsrecht. Und wann immer es um Recht geht, ist auch Gerechtigkeit im Spiel. Dass beide Begriffe nicht deckungsgleich sind, dürfte den Meisten bewusst sein. Doch über die vielen Konfliktfragen, die der Gerechtigkeitsbegriff im Großen wie im Kleinen selbst bietet, machen wir uns wenige Gedanken. Mit Karsten Fischer, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU und seit Jahren Gastdozent an der ZU, hat Futur Drei den Schritt hinein in das philosophische Feld der Gerechtigkeit gewagt.

 

Futur Drei: Herr Prof. Fischer, herrscht bei Ihnen zu Hause Gerechtigkeit?

F: Nein, zum Glück nicht, sondern Liebe. Gerechtigkeit ist nur eine regulative Idee für die imperfekte Welt des öffentlichen Zusammenlebens – nicht für die private Existenz.

Sind öffentliche und private „Gerechtigkeit“ also für Sie voneinander unabhängige Kategorien?

F: Gerechtigkeit ist eine Kompensationskategorie. Wenn wir nicht aus Zuneigung, aus Solidarität oder eben aus Liebe bereit sind, andere gut zu behandeln (z.B. sie an dem teilhaben zu lassen, wonach sie sich sehnen), dann sind Gerechtigkeitspostulate gleichsam eine »Nachhilfe«. Auf der öffentlichen, zumal der politischen Ebene kommt noch hinzu, dass Gerechtigkeit dort im Zusammenhang mit Grenzbegriffen relevant wird, wie etwa Freiheit und Gleichheit: Ist es gerecht, Freiheit zügellos wirken zu lassen? Ist es gerecht, Ungleichheit zu tolerieren? Ist es gerecht, Gleichheit herstellen zu wollen, auch wenn es auf Kosten von Freiheit geht? Kurz: Im öffentlichen, zumal politischen Kontext tritt Gerechtigkeit in einen größeren Zusammenhang und konkurriert mit anderen Begriffen, und dadurch wird es schwer, Gerechtigkeitsnormen ein für alle Mal festzulegen; vielmehr können sie nur noch das Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen sein.

Kann das bedeuten, dass selbst in einem Rechtsstaat umfassende Gerechtigkeit utopisch ist?

F: Es gibt diesen schönen Satz der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Dieser Satz drückt sehr gut aus, dass Gerechtigkeit, wie Luhmann sagt, die Kontingenzformel* des Rechtssystems ist, und nicht das, was es unmittelbar hervorbringt. Wenn man das verstanden hat, muss man auch nicht mehr unzufrieden sein, denn dann ist Gerechtigkeit ein Ideal, dem man sich annähern sollte, und nicht etwas, das man konkret erwarten kann.

*Kontingenzformel?

Kontingent ist Gerechtigkeit für ein Rechtssystem, da sie in ihm möglich ist, aber nicht notwendigerweise dort existiert. Die Kontingenz beschreibt den Rahmen des Möglichen, das Alternativen zulässt.

Wenn wir an gesellschaftliche Ordnung denken, ist dann Ungerechtigkeit umgekehrt hilfreich oder sogar notwendig? Wenn wir an soziale Schichten denken. Oder auch an Hierarchien, die wir in der Gesellschaft vorfinden und eventuell als hilfreich erachten.

F: Ungerechtigkeit ist sicher nicht hilfreich, Ungerechtigkeit ist sicherlich nicht akzeptabel. Im Gegenteil: Ungerechtigkeit ist etwas viel konkreteres als Gerechtigkeit, und deshalb auch analytisch interessanter und sozialethisch skandalöser. Die amerikanische Sozialphilosophin Judith N. Shklar hat ein sehr interessantes Buch über Ungerechtigkeit geschrieben. In diesem hat sie argumentiert, dass man sehr schwer bestimmen kann, was Gerechtigkeit ist, die Menschen aber sehr genaue Vorstellungen davon haben, was ungerecht ist. Insofern ist es vielleicht ein sinnvoller Weg, via negativa für die Reduzierung von Ungerechtigkeit zu kämpfen, anstatt soziale Konflikte darüber zu schüren, was denn gerecht sein könnte. Das ist jedenfalls ein Ansatz, der die Gesellschaft davor bewahren könnte, mehr Unfrieden zu schaffen als Gutes zu bewirken.

Wenn man das so sieht, wie kann dann aktiv für Gerechtigkeit gesorgt werden? Im Staat durch die Regierung?

F: Nein, der Staat sollte sich dann gerade nicht zu der Instanz machen, die Gerechtigkeit zu realisieren versucht. Wie sollte er das überhaupt tun? In Kantischer Terminologie ist Gerechtigkeit ja schließlich eine regulative Idee, also ein Korrektiv für Ungerechtigkeit im Sinne Judith Shklars.
Rainer Forst, ein aktueller Frankfurter Sozialphilosoph, hat deshalb davon gesprochen, das Recht auf Rechtfertigung sei das, was heute ein angemessenes Gerechtigkeitsverständnis beschreibe. Denn wenn wir nicht mehr substantiell angeben können, was Gerechtigkeit ist, dann ist dasjenige gerecht, was sich in einem Kommunikationsprozeß argumentativ, also mit guten, nachvollziehbaren Gründen rechtfertigen lässt. Von einem klaren Staatsauftrag ist solch ein prozedurales und plurales Verständnis ziemlich weit entfernt. Ein Staat, der sich zum Wächter und Produzenten von Gerechtigkeit machte, wäre wohl kaum ein Staat, in dem wir leben wollten.

Ganz andere Frage, mal im kleineren Kontext: Finden Sie Benotung an sich an Universitäten gerecht?

F: Das ist in erster Linie eine funktionale Frage: Wozu dienen Noten? Sie dienen dazu, unterschiedliche Zeugnisse zu vergeben, die Leistungen attestieren und Vergleichbarkeit zwischen Absolvent(inn)en herstellen. Die wiederum dient dazu, unterschiedliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu generieren und die Besseren zu bevorteilen. Das halte ich für nicht ungerecht, sondern für sinnvoll. Insofern sehe ich kein Gerechtigkeitsproblem darin, Noten zu vergeben.

Wenn Sie schon von Funktionalität sprechen, dann tut sich eine andere Frage auf: Wenn Sie vergleichen – Sie lehren ja sowohl hier an einer privaten als auch an einer staatlichen Universität – was halten Sie für wirksamer, ein mehrstufiges Auswahlverfahren, wie wir es hier für eine kleine Bewerberzahl haben, oder den Numerus Clausus? Gibt es irgendeinen Zwischenweg für die Zukunft?

F: Nein, ein Zwischenweg könnte ja nur einer sein, der vereinheitlicht einen idealen Mittelweg bietet und das gibt es wahrscheinlich nicht.

Wir haben eine Ausdifferenzierung des Hochschulsystems erlebt zwischen privaten und öffentlichen Universitäten, und das ist auch gut so, weil man ja aus der Systemtheorie lernen kann, dass Differenzierung und Komplexitätssteigerung immer gut sind! Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Wege in der Bewerber(innen)auswahl. Ich halte das Auswahlverfahren an einer privaten Universität für ideal, weil man mit den Bewerber(inne)n diskutieren kann, sich ein konkretes Bild machen kann. Das ist aber an einer öffentlichen Hochschule aufgrund der schieren Menge an Bewerber(inne)n schlichtweg nicht realisierbar; also braucht man dort andere Auswahlverfahren, sofern man nicht von vornerein alle zulässt, was wiederum eine Frage an die Kapazitäten, sprich: an die öffentliche Hochschulfinanzierung ist. Wenn es finanziell darstellbar wäre, dementsprechend viele Dozent(inn)en einzustellen, spräche meines Erachtens nichts dagegen. Andernfalls braucht man aber eben Selektionsmechanismen, wie man es mit Studiengebühren und anderem versucht hat, was aber bekanntlich nicht besonders erfolgreich war.

Dann noch eine letzte Frage. Wenn Sie, ganz flach gesagt, eine Gerechtigkeitsphilosophie wären und sich keine zusammenbasteln dürften, wären Sie…?

F: Da würde ich mich, auch wenn ich sonst überhaupt nicht dorthin tendiere, an Jacques Derrida halten, mit seinem angreifbaren und unbegründeten, aber gleichwohl schönen Satz, Gerechtigkeit sei das einzige, was nicht dekonstruierbar sei. Das drückt meines Erachtens sehr schön aus, dass Gerechtigkeit eben eine regulative Idee ist, dass wir seit den Anfängen der Menschheit immer über Gerechtigkeit geredet haben, es immer tun werden und immer tun müssen, dass wir aber gleichzeitig Gerechtigkeit schwerlich substantiell bestimmen können, weil das, schon bei Platon, ideologieanfällig ist. Und wenn Sie ein inhaltlich anspruchsvolleres Gerechtigkeitsverständnis wünschen, dann würde ich mein Kreuzchen am ehesten bei John Rawls machen, der es geschafft hat, eine gehaltvolle und zur Begründung wohlfahrtsstaatlicher Standards taugliche Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, ohne dafür Abstriche an seinem politischen Liberalismus machen zu müssen.

Also ganz ohne ein Zusammenbasteln kommen wir wohl nicht aus! Ich bedanke mich für das Gespräch.