Die Antwort der Kunst auf die Flüchtlingskrise bewegt sich oft irgendwo zwischen Poornography und der stumpfen Reproduktion von Medienbildern. Lässt sich fremdes Leid künstlerisch darstellen?
Eine junge Schauspielerin sitzt umringt von einer Gruppe internationaler Reporter in der Mitte eines strahlend weißen Ausstellungsraums und erzählt in gebrochenem Englisch von der Flucht nach Europa – von den langen Fußmärschen, die ihren von Krankheiten geschwächten Körper an seine Grenzen trieben und von den schrecklichen Gedanken, sich entscheiden zu müssen, welche ihrer beiden Töchter sie retten wird, falls das überfüllte Boot im Mittelmeer sinkt. Die Geschichte, die sie mit übertriebenem Pathos in der Stimme erzählt, ist nicht ihre eigene. Sie stammt aus einem der zahlreichen Interviews welche die Künstlerin und Aktivistin Sallie Latch in den vergangenen Monaten mit Geflüchteten geführt hat. In einem abgedunkelten Nebenzimmer sind Ausschnitte der Interviews als Soundinstallation zu hören. Verglichen mit den Originalaufnahmen wirkt die Darbietung der Schauspielerin deplatziert und unangemessen. Ich rutsche auf meinem Sitz herum und beobachte das Meer gebräunter Beine und neon farbener Luftmatratzen, das sich hinter den Fenstern des gut klimatisierten Raumes erstreckt.
Fremdes Leid künstlerisch darzustellen, ist eine gewaltige Herausforderung, die nur selten gelingt. Das zeigt nicht nur die unglückliche Performance, von der ich mich durch das intensive Begutachten der Badegäste vor dem Fenster abzulenken versuche, sondern auch viele der anderen Kunstwerke um mich herum. „A World Not Ours“ heißt die Ausstellung, für deren Eröffnung ich auf die griechische Insel Samos reisen durfte. Samos, das ist eine seit dem Ende des türkisch-griechischen Kriegs im Jahr 1922 von Diaspora geprägte Insel. Damals suchten tausende aus der Türkei vertriebene Griechen auf der nur 1,2 km von der türkischen Hafenstadt Izmir entfernten Insel Asyl. Heute flüchten erneut tausende von Krieg und Leid vertriebene Menschen nach Samos. Im vergangenen Jahr erreichten über 100.000 Flüchtlinge die Insel – insgesamt dreimal mehr Personen, als die beschauliche Ferieninsel Einwohner hat. „A World Not Ours“ hat es sich zum erklärten Ziel gemacht, einigen dieser Menschen durch Kunst eine Stimme zu geben und ein Gegengewicht zu einseitigen und standardisierten Medienbildern von wackeligen Schlauchbooten und homogenen Armutsmassen zu bilden.
In der Ausstellung zu sehen sind allerdings größtenteils: Medienbilder. Gleich zwei Pressefotografen sind unter den zwölf Künstlern, deren Arbeiten gezeigt werden. Unter anderem flimmern die Fotos des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Fotografen Yannis Behrakis über eine Leinwand und zeigen dabei nichts Neues: Große, verängstigte Kinderaugen, in Goldfolie eingewickelte Männer, die flehend gen Himmel blicken, Väter, die ihre erschöpften Kinder durch den Regen tragen. Fast alle der Bilder erkennt man irgendwoher wieder, sei es aus der Tageszeitung oder aus einem Buzzfeed-Listicle über die bewegendsten Flüchtlingsfotos des Jahres. Man hat sich an sie gewöhnt, sie rufen nur noch beunruhigend abgestumpfte Emotionen hervor.
Ähnlich verhält es sich auch mit den restlichen ausgestellten Werken, die eher journalistisch als künstlerisch wirken. Die Kernbotschaft ist dabei stets die gleiche: Die Personen, die zu uns nach Europa kommen, sind Menschen wie du und ich, sie machen sich Sorgen um das Wohl ihrer Kinder, sind geplagt von Heimweh und Erschöpfung und wünschen sich eigentlich nur ein besseres Leben. Es ist unfair, dass ihnen der Weg in ein sicheres Land erschwert wird und dass viel zu viele von ihnen vor den Toren der Festung Europa dahinsiechen und sterben. Vielleicht kann diese Botschaft tatsächlich nicht oft genug wiederholt werden. Aber während ich die junge griechische Frau dabei beobachte, wie sie Sallie Latchs Arbeit zitiert, erscheint mir Wiederholung immer weniger sinnvoll.
Angesichts der wachsenden Abgestumpftheit gegenüber Medienbildern suchten einige Künstler die Lösung in immer extremeren Herangehensweisen an die Thematik. So wie Ai Weiwei, der in diesem Jahr auf einem dramatischen Schwarzweißfoto als der ertrunkene syrische Junge Aylan Kurdi posierte, dessen Foto zuvor tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt worden war. Oder so wie das Zentrum für politische Schönheit, das der deutschen Regierung bei der Aktion „Flüchtlinge fressen“ damit drohte, Flüchtlinge Tigern zum Fraß vorzuwerfen, sollte sie nicht die Einreise von Flüchtlingen mit dem Flugzeug erlauben. Am Ende wurde dann natürlich doch niemand gefressen, und auch Ai Weiweis Selbstinszenierung sorgte lediglich dafür, dass das Foto der mit einem knallroten T-Shirt bekleideten Kinderleiche endgültig zur Meme wurde. Ai Weiweis nachgestelltes Foto ist ein Paradebeispiel für etwas, das der Kunstkritiker Tirdad Zolghadr als Poornography bezeichnet: Prekarität und Elend werden genutzt, um reißerische Bilder zu schaffen. Für den Betrachter versprechen sie sofortige Befriedigung: Leid gesehen, Leid bemitleidet, kurz über die Probleme der Welt nachgedacht, weiter geht’s. In abgeschwächter Form lässt sich dieses Schema auch bei „A World Not Ours“ auf Samos beobachten.
Vielleicht wären formell ausgefallene Arbeiten angesichts der Bildfluten die uns täglich umgeben besser geeignet, um neue Sichtweisen auf die Flüchtlingskrise zu liefern. Und vielleicht gelingt gute Kunst über die Flüchtlingskrise nur durch die Partizipation der Menschen, die ihre Ausmaße am eigenen Leib erfahren haben. Damit ist nicht bloß gemeint, wie Olafur Eliasson Flüchtlinge zur gemeinsamen Bastelstunde einzuladen. Denn wie die Flüchtlingsorganisation RISE in Punkt 4 ihrer Richtlinien für Künstler ohne Migrationshintergrund, die sich mit Flucht auseinandersetzen wollen schreibt: „Participation is not always progressive or empowering“. Im Umgang mit der Flüchtlingskrise progressiv und ermächtigend zu sein, das scheint der Kunst allgemein schwer zu fallen. In dieser Hinsicht spiegelt sie gesellschaftliche Realität ziemlich präzise wider.