Die Bedeutung von Wahlen wird gerne vor dem Wahltermin etwas übertrieben dargestellt. Deshalb etwas zaghafter: Die Wahl in Spanien diesen Sonntag könnte tatsächlich einige grundlegende Veränderungen auslösen.
Weil die Berichterstattung über Spanien in Deutschland leider nur wenig Aufmerksamkeit genießt und immer wieder betont wird, dass eine größere europäische Öffentlichkeit nötig wäre: Diese Bestandsaufnahme und ein Ausblick (am Freitag, 18.12) versuchen vorab einen Überblick über die Wahl in Spanien am kommenden Sonntag, 20.12 zu schaffen.
Bestandsaufnahme: Eine überfällige Wahl
Spanien befindet sich seit fast zehn Jahren in einer wirtschaftlichen Dauerkrise, der ein künstlicher Wirtschafts-Boom vorausgegangen war. Künstlich, weil er auf Tourismus, Baubranche und internem Konsum aufbaute. Strukturell führte das die Deindustrialisierung der 80er Jahre weiter und vermochte nur unproduktive und vor allem unsichere Arbeitsplätze im Servicebereich zu schaffen. Aufgrund eines zaghaften und damit auch unzureichenden Eingreifens der sozialistischen Arbeiterpartei PSOE (der Name sollte nicht täuschen; es handelt sich um eine sozialdemokratische Partei) ging bei der letzten Wahl 2011 die absolute Mehrheit an die konservative Volkspartei PP. Unter den Vorgaben der Europäischen Union führte diese Regierung in den letzten vier Jahren eine rigide Sparpolitik durch, die (wie auch Vertreter der EU und der Bundesregierung mehrmals bemerkt haben) über das durch internationale Institutionen Geforderte hinaus ging: Die seit jeher in den Schubladen ruhenden neoliberalen Wirtschaftsreformen konnten aufgrund der absoluten Mehrheit durchgewunken werden.
Gleichzeitig bahnte sich der Protest seinen Weg auf den Straßen; die „indignados“ (Empörten) füllten die Plätze Spaniens. Gerade weil die Protestierenden nicht politisch organisiert waren, brachten sie eine allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Neben einer sozialunverträglichen Krisenpolitik mobilisierte vor allem die Aufdeckung von großen Korruptionsskandalen die Menschen. Die protestierende Bevölkerung lehnte es zudem ab, dass die Politik in Krisenzeiten das Aufziehen alter Unterscheidungen (rechts/links, Spanien/Katalonien) der Suche nach einem breiten Konsens vorzog. Die Massenproteste wurden weitestgehend von der Regierung ignoriert und teilweise eingeschränkt.
Es dauerte über ein Jahr, bis sich aus den basisdemokratischen und konsensorientierten lokalen Protestbewegungen eine politische Formation herausbildete: PODEMOS („Wir können“). Die um den Madrider Politikprofessor Pablo Iglesias entstandene Partei ist damit ebenso wie die Protestbewegung zunächst kein linkes Bündnis, sondern wird von breiten gesellschaftlichen Schichten getragen. Angesichts der wirtschaftlichen Lage und der bekämpften Regierungspolitik lassen sich allerdings viele Forderungen als traditionell linke Politiken einordnen. Dennoch ist PODEMOS hauptsächlich damit angetreten, die politische Kultur in Spanien aufzurütteln: Wie wird debattiert und was sind valide Argumente? Wie geht man mit Korruption um? Wie führt man Amtsträger wieder näher an die Bevölkerung heran? Wie findet man eine soziale Antwort auf die täglichen Zwangsräumungen von Wohnungen? Wie geht man mit Unabhängigkeitsbestrebungen um? Wie erklärt man die eigenen Vorschläge und wie sehr geht man auf die Zivilgesellschaft ein? Das Gefühl, dass diese Fragen im Regierungshandeln keine Rolle spielen, führte die „indignados“ auf die Straßen und dann zu PODEMOS.
Das Problem der Partei (die Umfragen deuten seit Monaten immer schlechtere Werte an) liegt darin, dass sich all die adressierten Problemfelder in den letzten Jahren radikal gewandelt haben – bevor sich die Möglichkeit ergeben hat, die eigenen Ideen bei einer Wahl in Sitze zu kapitalisieren. PODEMOS hat durch frische und wache Ideen die PSOE dazu gezwungen, die internen Strukturen zu demokratisieren und ihr Programm zu erneuern. Die konservative PP hat sich so stark in eine Anti-Haltung zu Veränderungen positioniert, dass zudem der politische Raum für eine junge und offenere konservative Partei entstanden ist: CIUDADANOS („Bürger“) unter dem jungen Parteivorsitzenden Albert Rivera. CIUDADANOS könnte mit etwas Vorsicht als bürgerlich progressive liberale Partei eingeordnet werden).
Besondere Relevanz hat in den vergangenen Jahren die Frage um die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien gewonnen, zumal die Regierungspartei PP jede Form von Zugeständnis oder auch nur von Verhandlung ablehnt; wohl um die für sie günstigen zentralistischen Tendenzen im übrigen Spanien zu stärken. Das mag ein symptomatisches Beispiel dafür sein, wie die gegenwärtige Regierung gelernt hat – vermeintlich zu ihrem eigenen Vorteil – Probleme auszusitzen. Die Wahl am Sonntag wird deshalb von großen Teilen der Bevölkerung herbeigesehnt als eine Chance, das alte Wechselspiel von rechts und links durch die Etablierung neuer Parteien zu überwinden. Ab Sonntag werden im Parlament erstmals wirkliche Regierungskoalitionen nötig sein, um eine Regierung einzusetzen, die – so die Hoffnung vieler Wähler – einen großen gesellschaftlichen Konsens in Hinblick auf die drängendsten Fragen anstreben und erarbeiten können: Reform des Föderalismus und des Senats, Reform des Wahlrechts, erneute Reform der Arbeitsmarktgesetzgebung, Reformen der Renten- und Pflegeversicherung, Stärkung der Judikative und Bekämpfung der Korruption.
Das denkwürdigste Ereignis des Wahlkampfes hat bereits stattgefunden: Die weltweit bedeutende Tageszeitung El País hat zu einem Wahlduell mit den Parteivorsitzenden der vier großen Parteien geladen. Regierungschef Mariano Rajoy (PP) nahm die Einladung im Gegensatz zu den anderen drei Politikern nicht an. So stand neben drei jungen Männern unter 40, die allesamt leger gekleidet waren, ein vierter Stehtisch, der leer blieb und auch nicht entfernt wurde: Der des amtierenden Ministerpräsidenten, der sich nur auf eine Debatte mit dem Oppositionschef einließ. Dieses Bild symbolisiert den Zustand der spanischen Politik: Drei junge Politiker, die entweder neue Parteien aufgebaut oder ihre Partei grundlegend reformiert haben, bemühen sich um konsensorientierte Lösungen und möchten nicht weiter Reform durch Gegenreform ersetzen. Sie sind dennoch in der Lage, deutlich wahrnehmbar unterschiedliche Standpunkte zu formulieren und herausragend darzulegen. Drei Politiker, die strukturelle Probleme der spanischen Wirtschaft angehen wollen und nicht eine Vision von einer Wirtschaft haben, die sich im Preiswettbewerb um billige Arbeit profiliert, sondern sich so wie die deutsche Wirtschaft im Qualitätswettbewerb durchsetzen kann (hier muss angemerkt werden, dass die deutsche Kanzlerin den Kurs der konservativen Regierung hierbei massiv unterstützt und damit unterschiedliche Wertschöpfungsmodelle für Deutschland und Spanien begünstig). Drei Politiker, die wissen, dass Sparbemühungen nötig sind, aber die Lasten nicht nur auf die Schwachen verteilt werden können, und die bereit sind den, Föderalismus neu zu verhandeln, um die Einheit Spaniens dauerhaft zu sichern.
Drei junge Politiker, ohne Erfahrung in politischen staatlichen Ämtern, denen man dennoch zutraut, in die Rolle eines Regierungschefs hineinzuwachsen.
Und ein Rednerpult, das leer bleibt.