Lit Contest Platz 3: Seeschwalben

Fotografie: Malina Mayer, Deriva Nocturna (2018)

Die Kante fühlt sich an wie die Grenzen einer Feder,
und ich weiß nicht, ob das scharf ist oder unendlich weich.

Wie diese Glaswolle mit der man sich als Kind verbotenerweise die Arme eingerieben hat, weiche
und beißende Fasern, ganz fest, bis in die Armbeuge hinein, diese Stelle, an der die Haut sanft
wird wie warme Milch und so einladend, dass man mit einer Nadel hineinstechen möchte.
Nadelstiche, das war auch die Wolle, die zwischen den Fingern zerrieben werden kann und noch
Stunden nachzustechen scheint.

Die Kante kitzelt unter den Fußspitzen, die Luft lockt. Du hast mir erzählt, dass Kundera meinte,
Menschen, die Höhenangst haben, haben keine Angst vor der Tiefe, sondern ein Sehnen nach
ihr. Ein Sehnen so groß, so schwer, dass es zieht, dass es Angst macht, weil man weiß, dass man
fallen will.
Ich habe mich immer gefragt, wie viel von dir in diesen Worten gesteckt hat.
Er, der andere, ein anderer, meinte einmal, ich würde mich bei jedem Schritt fallen lassen wie ein
Vogel. Ich habe mich immer gefragt, wie viel von mir in dieser Beobachtung gesteckt hat.

Die Luft kitzelt an meinen Fußspitzen und das Metallgitter drückt seine Erinnerung in meine
Waden. Seeschwalben kreisen. Seelichter kringeln sich über Seewellen und dieser See, ich weiß
eigentlich gar nichts mit ihm anzufangen.

Leise tapst es.
Irgendwann nachts wird der Turm eigentlich zugesperrt, doch seit es Sperrstunden gibt scheint
das überflüssig.
Ich drehe mich nicht um, ich kralle meine Jacke weiter um mich und spüre die Nägel in den
Handinnenflächen, presse die Zähne aufeinander, damit sie nicht klappern, wie eigentlich immer
nach dem Rauchen. „Nur mir, nur mir, nur mir“, schreit es in mir „dieser Moment gehört nur mir“.
Nicht umdrehen.
In der Ferne blinkt das andere Ufer, ich warte auf die Fähre, auf einen Moment des Ankommens,
während sich alles in mir auf Weggehen einstellt.
Sie räuspert sich, leise und bestimmt, wie eine Steinmetzin, die gezielt mit dem Schmirgelpapier
eine Kante Speckstein abschleift. Ich schiele schon fast, um mich nicht umzudrehen. Welche Farbe
hat das Haar dieser Frau und welche Schuhgröße trägt sie?
„Kannst du mir sagen, wie diese weißen Vögel heißen?“, fragt sie mich.
„Seeschwalben“, kommt ohne nachzudenken, ohne zu wissen, ob das stimmt aus mir.
Es ist vermutlich falsch, die Vögel machen Geräusche wie Möwen aber ich möchte nicht glauben,
dass es Möwen auch woanders als am Meer gibt und das Wort gefällt mir so gut. „Seeschwalben“,
sagt sie und ich höre, dass auch sie das Wort schmeckt, es auskostet und gleichzeitig nicht daran
glaubt.
Wir sagen nichts mehr, sie atmet.
Ich atme auch, denke ich.

Ich spüre die Luftgrenze in meiner Nase, die Stelle bis wohin die kalte Nachtluft reicht und dann
die Grenze, an der meine warme Körperinnenluft beginnt.
„Es ist auch Luft in einem Körper, nicht nur Wasser“, sage ich und frage mich im nächsten Moment
schon, wieso ich das gesagt habe. „Ja, Worte sind aus Luft gemacht“, sagt sie. Ich schlucke. „Ja.
Worte sind aus Luft gemacht.“

Ein Fetzen deiner handgeschriebenen Briefe steckt in meiner Jackentasche. Die andere Hälfte
hängt gerahmt im Eingang meiner alten Wohnung. Ich habe ihn hängen gelassen, für unbekannte
Nachmieter. Ich drücke fest, ziehe die Kante langsam durch meine Fingerspitzen, bis es schneidet.
Führe den Finger zum Mund, ein dünner Faden rinnt herunter. Schmecke Blut.

Sie beobachtet mich, aus dem Augenwinkel.
„Du hast das mit Absicht getan“, sagt sie. Keine Frage, eine Aussage.
„Worte sind nicht aus Luft gemacht.“, sage ich, „Luft schneidet nicht.“
„Oh doch, natürlich schneidet die Luft“, sagt sie und tritt zweieinhalb Schritte näher. Der letzte
Schritt, der halbe, ist ein Balancieren auf den Zehen, ein Wiegen nach vorne, nur halbe
Gewichtsverlagerung. Sie zögert, das sagt der Halbschritt. Ich nehme die Zigaretten aus der
Innentasche. „Willst du auch eine?“, frage ich, strecke sie ihr hin, gerade so weit, dass sie noch
einen halben Schritt nähertreten muss. „Danke“, sagt sie, greift unbeholfen in die Schachtel,
bekommt den Filter mit ihren kurzen Nägeln kaum zu fassen. In einer lässigen Bewegung die
Schachtel schütteln und ihr eine entgegenstrecken, das würde ich jetzt gerne tun, aber auch ich
bin unbeholfen.

Es ist windig hier oben. Ihre Augen werden zu schmalen Schlitzen während sie inhaliert, sie blickt
mich unverwandt an. Ich weiß nichts zu sagen, sie weiß es ebenso wenig. Ich drehe mich um,
stütze die Unterarme auf das Geländer. Es blutet noch, verstohlen sauge ich zwischen den Zügen
an meiner Fingerkuppe, Metall und Nikotin.
Unter uns die Vögel, der See, der See.

Ich spüre wie das Geländer zittert.
Blicke nach rechts und sie steht dort, weit oben, reicht bis in die Nacht hinein.
Ihre Haare flattern im Wind, der Mantel bäumt sich auf, die Glut ein rotes Licht im Himmel, ein
warnender Punkt.

Alles in mir spannt sich, es reißt und ich kann mich nicht bewegen.
Es reißt und ich friere, die Schauer krallen sich meinen Rücken herab und rutschen.
Sie blickt starr geradeaus, ihr Blick ist unscharf, ich kenne das zu gut, um es nicht zu wissen.
Schlucken. Rauschen. Ein Rauschen so laut, das Rauschen des Windes in ihren Haaren, des Blutes
in meinen Ohren, der Wellen dort unten und des Raumes über und um und

Es schlägt
Mein Herz schlägt
In meiner Flanke und
Mein Puls
Pocht

Sie wendet den Kopf leicht und blickt mich an, beugt die Knie und gleitet beiläufig vom Geländer.
Ihre Mundwinkel kräuseln sich, sie sagt „Die Luft schneidet nicht, die Luft trägt und die Worte
fallen.“ Ein wiegender Schritt hin, ein halber Schritt zurück, ich sehe mich selbst wie gezeichnet
von außen, mit leicht geöffnetem Mund. „Ich glaube, das sind keine Seeschwalben. Sie schreien
wie Möwen und ich möchte nur, dass es Schwalben sind.“ Sie lächelt, dreht sich um und geht.

Vögel kreisen im grünen Licht des Turms.
Ich gehe Stufe für Stufe hinab und spüre wie noch nie die Luft unter mir und die Rillen der
Treppe in meinen Fußsohlen.
Bin ich schon so weit gelaufen mit diesen Schuhen, sind sie schon so dünn geworden, diese
Sohlen, die mich trennen von der Welt?
Es ist still und ich höre nicht mal meinen eigenen Atem mehr.