Als ich die Blaue Blume das erste Mal besuche, schreite ich unter einem Blätterdach von Apfelbäumen hindurch, bis sich vor mir eine kleine Wiesenfläche öffnet, auf der fünf skurril aber heimelig wirkende Wägen stehen. Es hat lange gebraucht hier her zu finden. Das Wohnprojekt der Blauen Blume in der Schnetzenhauser Straße ist an der Zeppelin Universität bekannt wie ein bunter Hund. Jeder möchte schon mal dagewesen sein, aber keiner hat es so richtig geschafft und auch ich habe drei Semester gebraucht, bis ich es schaffte, vorbeizuschauen. Was ich hier finde erinnert ein bisschen an meine Pfadfinderzeiten, nur dass hier eben keine Koten und Jurten stehen, sondern Bauwagen. Alles wirkt zweckmäßig und liebevoll improvisiert. Die Wagen haben entweder die erwartete Kastenform und demonstrieren ihr komfortables Alter, oder sie sind zusammengebastelt, als seien es Wunderkisten der Gemütlichkeit. Die provisorische Küche ist ein überfüllter Verschlag, der aus Brettern und alten Möbeln zusammengesetzt ist und – man mag es fast nicht sagen, aber ja – die Feuerstelle wirkt romantisch. Mit einem Wort: der ganze Ort wirkt einladend.
Einladend wirken auch die Menschen. Sie studieren seit ein paar Jahren irgendwas mit Gesellschaft, Medien und Kultur an der Zeppelin Universität. Nebenher gründeten sie vor etwa zwei Jahren das Wohn-und-Kulturprojekt „Die Blaue Blume e.V.“ in Friedrichshafen. Zunächst waren sie nur zu zweit, dann zu dritt, und mittlerweile besteht der Verein aus einer wachsenden Gruppe von aktiven Mitgliedern. Er will im Rahmen von familiären aber öffentlichen, kostenlosen Veranstaltungen Friedrichshafener Bürger und Studenten zusammenbringen um so einen Ort des Austauschs und der Begegnung schaffen. Die Blaue Blume wird getragen durch die Menschen, die sich bei Veranstaltungen einbringen, indem sie vortragen oder mitorganisieren, durch Kooperationen mit anderen Vereinen und Initiativen, sowie finanziell durch Spenden und Stiftungsgelder. Ihre Veranstaltungen sind äußerst breit angelegt und reichen von kleinen Konzerten, Poetry-Slams und Blauen Nächten über Schreibwerkstätten, Beteiligung an Festivals wie dem Seekult bis hin zu Seminaren zu Themen wie Queer Feminismus oder Anti-Rassismus. Das einzige, was hier nicht erwünscht ist, sind diskriminierende Haltungen, ansonsten ist hier jeder willkommen. Alle sollen hier einen Platz finden, an dem sie sich wohlfühlen und ausprobieren können. Die Blaue Blume will eine Plattform sein für unterschiedliche Menschen und Ideen, an der alle mitgestalten können.
Die fehlende Größe des Standortes stellte bis vor einigen Wochen jedoch ein Problem dar. Man versuche eine offene Atmosphäre zu gestalten und jeden willkommen zu heißen, was grundsätzlich auch gelinge. Aber der Platz war zu klein, um die Offenheit und Weitläufigkeit zu bieten, die es brauchte um ihn zu dem ständigen Begegnungsort zu machen, der er sein sollte. Auch alle Einrichtungen, die zur Blauen Blume gehörten, waren nicht unterzubringen, so z.B. das „Klimpernde Glashaus“ – die mobile Bühne, der Küchenbus und der für Veranstaltungen ausgebaute „Wedding-Bus“. Sie alle sollten öffentlich zugänglich sein, verteilten sich aber seit Langem über diverse Werkhallen und konnten nur zu einzelnen Veranstaltung, wie z.B. dem Seekult-Festival, aus der Verdeckung geholt werden.
Auch die Lage an der Schnetzenhauser Straße war nicht optimal. Zwar fühlten sich die drei momentanen Bewohner des Wohnprojektes auf dem Bauernhof wohl, aber als Kulturprojekt lag die Blaue Blume sowohl für Bürger der Stadt als auch für Studenten zu weit abgelegen, um häufiger mal auf den Gedanken zu kommen, einfach vorbeizuschauen. Daher war ein Umzug früher oder später nicht zu vermeiden, wenn die Blaue Blume erwachsen werden wollte.
Einige erfolgversprechende Versuche hatte es gegeben. Es sei manchmal enttäuschend gewesen, wenn es bereits so aussah, als handle es sich nur noch um Formalien, bis dann im letzten Moment doch abgesagt wurde. Die große Hoffnung war die alte Container-Uni gewesen, aus der die Zeppelin-Universität mittlerweile ausgezogen ist. In Verbindung mit dem Hangar hätte sich dort die Möglichkeit geboten, enger mit anderen gemeinnützigen Kooperationen zusammenzuarbeiten, um größere Veranstaltungen zu organisieren. Leider konnte dieser Standort nicht bezogen werden, sodass sich die Blaue Blume nach einem anderen Ort zum Umtopfen umschauen musste, um neue Wurzeln schlagen zu können.
Letzte Woche Freitag war es dann endlich soweit: In einer Kolonne bewegte sich die Blauen Blume mit ihren Bussen und von Traktoren gezogen Wägen gemütlich und fröhlich den Fallenbrunnen hinunter, um ihre Wurzeln in der Wiese neben dem Kindergarten in der Windhager Straße zu schlagen. Dabei ging alles erstaunlich reibungslos vonstatten. Trotz der Enge der Zufahrtswege stand alles ungemein schnell an seinem Platz. Noch in der Nacht wurde auch die für alle nutzbare Küche aufgestellt. Später am Abend saß man bereits an einem Lagerfeuer, während rundum die Wägen und Busse einen großen Platz einkreisten, der ahnen ließ, was in Zukunft alles möglich sein würde.
Der neue Standort ist zentraler zwischen den Universitäten und der Innenstadt gelegen. So ist es wahrscheinlicher, dass der Platz auch nur zufällig entdeckt wird und Interesse weckt. „So ist es auch gedacht“, sagt Indra, die schon lange dabei ist. „Die Blaue Blume versteht diesen Platz als öffentlich: wer immer auch kommen möchte, kann das tun.“ Die öffentliche Küche steht seit letztem Wochenende zur freien Verfügung, genau so wie die Veranstaltungsbusse. Es gibt einen privaten Bereich für das Wohnprojekt, das momentan aus drei Menschen besteht und jetzt durch den größeren Platz endlich Zuwachs bekommen kann – Interessenten stehen schon in den Startlöchern. Dieser Bereich ist jedoch räumlich abgetrennt. Denn für den Ort im Allgemeinen gilt: Was auch immer man tun wolle, solle man tun – Kaffee trinken, kochen, lernen, arbeiten, diskutieren, entspannen – auch ganz spontan. Solange nur jedem klar sei, dass der Platz für alle da ist und entsprechend geachtet werden soll.
Um das bekannt zu machen, sind bereits für die ersten Wochen viele Veranstaltungen geplant, zu denen jeder gerne eingeladen ist. Die Eck-Kneipe, Schreibwerkstätten und Nachbarschafts-Cafés werden zukünftig soweit möglich wöchentlich Donnerstags, Samstags und Sonntags stattfinden. Noch im November finden ein Poetry-Slam, eine Podiumsdiskussion zu Stadtentwicklung und ein Vortrag über partizipative Planungsprozesse statt. Jeden Dienstag stehen außerdem die Türen für aktive Interessierte offen, um gemeinsam in der Pläneschmiede neue Projektideen umzusetzen.
„Inzwischen kann man auch alles auf unserer Internetseite einsehen, die wir überarbeitet haben und die wir regelmäßig aktualisieren“ lässt Indra mich wissen mich wissen und Gründungsmitglied Jakob fügt hinzu: „Wir hoffen, dass wir mit dem neuen Standort unsere Reichweite wesentlich erhöhen können. Das war am alten Platz kaum möglich. Wir freuen uns darauf, das Projekt endlich so wachsen lassen zu können, wie es von Anfang an gedacht war. Es wäre schön zu sehen, dass wir als Blaue Blume zwar Impulse setzen, sich das Projekt aber selbst verwirklicht durch Menschen, die hier gemeinsam einen Platz zum Aus- und Einsteigen finden“.