Es geht ein Gespenst um in Deutschland, Europa und der Welt, ein Gespenst namens COVID-19. Das Virus, welches zunächst in der chinesischen Stadt Wuhan um sich griff, kann wohl schon jetzt zum Negativexportschlager des anbrechenden Jahrzehntes gekürt werden, da es bereits heute für weltweite Ausnahmezustände sorgt, zehntausende Menschenleben dahinrafft und desaströse wirtschaftliche Schäden anrichtet. Doch natürlich lädt die gegenwärtige Pandemie auch zum Nachdenken über uns selbst ein, da man schließlich ohnehin viel Zeit hat und das Momentum der Krise auch einen Blick unter die gesellschaftliche Fassade zulässt. So erstaunt es wenig, dass mit zunehmendem Andauern der gegenwärtigen Krise zunächst die Virologen, dann die Ökonomen, zuletzt gefolgt von den Psychologen, zu der veränderten gegenwärtigen Lage befragt werden. Vielleicht ist es nun an der Zeit aus der Perspektive der Soziologie eine Bewertung der Situation vorzunehmen.
Doch wie könnte eine derartige Gegenwartsdiagnose aussehen?
Die Krise als Dauerzustand
Zunächst erscheint es sicherlich sinnvoll beim Begriff der Krise anzusetzen, der wohl der kleinste gemeinsame Nenner aller Gegenwartsbeschreibungen ist und der vorrangig dazu dient, die Bevölkerung in Alarmbereitschaft zu versetzten. Das Besondere ist hierbei, dass der Modus der Krise nun wirklich kein Novum der Gegenwart ist: Seit der Finanzkrise 2008 scheinen wir ununterbrochen auf einem Drahtseil zwischen Normalität und völligem Chaos hin und her zu balancieren, wobei sich lediglich die Form des Krisenszenarios, welche auf der anderen Seite auf uns zu warten scheint, verändert. Ulrich Beck sprach bereits in den Achtzigern von der „Risikogesellschaft“ und meinte damit, dass in postmodernen Gesellschaften die Produktion von Wohlstand zu neuen gesellschaftlichen Risiken führen würde. Und eben diese Logik scheint sich im 21 Jahrhundert unmittelbarer denn je zu bewahrheiten. Das altbekannte Stichwort ist einmal mehr das der Globalisierung, die aber nicht nur zu einer immer stärkeren Vernetzung der Menschen führt, sondern durch ihre kapitalistische Grundausrichtung die Welt in globale Gewinner und Verlierer einteilt. Eine Folge der ökonomischen Disparität sind die Migrationsströme, da der Unterschied zwischen Arm und Reich scheinbar nur als geographische Distanz besteht; eine Folge des internationalen Warenverkehrs die Umweltverschmutzung, da umweltverträgliches Verhalten in der Logik der Großkonzerne immer noch nicht rentabel erscheint. Der einzige Unterschied aus Sicht des Westens scheint darin zu bestehen, dass die losgetretenen Probleme nunmehr verstärkt auf uns selbst zurückfallen.
Das Paradox des Politischen
Bewegt man sich von den Krisen zu den potentiellen Lösungen, lässt sich kaum das Paradox des Politischen übersehen, was allen Krisen des 21. Jahrhunderts im Kern eingeschrieben ist: Die entscheidenden handelnden Akteure sind die Nationalstaaten, die für sich selbst die notwendigen Entscheidungen treffen, während der Multilateralismus im Ernstfall an sich selber scheitert. Erst kürzlich konnten sich die G-7 Staaten auf keine Abschlusserklärung einigen, da die amerikanische Delegation darauf beharrte, dass die Formulierung „ein chinesisches Virus“ in dieser aufzunehmen sei. Oder man nehme das Paradebeispiel des Supranationalismus, die EU, die ihren Teil dazu beigetragen hat, dass Italien deutlich stärker durch COVID-19 betroffen ist als beispielsweise Deutschland, da die im Rahmen der Eurokrise aufoktroyierten Strukturreformen zu massiven Kürzungen im Gesundheitswesen geführt haben, die sich in der gegenwärtigen Situation bemerkbar machen. Entscheidend ist dabei, dass sich politisches Handeln und die hieraus ergebenen Folgen voneinander entkoppelt haben, was zum kollektiven Versagen der politischen Strukturen führt. Der Nationalstaat als Idee ist im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in die Realität übertragen worden, wobei seine Konzeption auf eine Inklusion durch Exklusion-Logik (Wir gegen das Andere) verweist. Die gegenwärtigen Krisen können schon alleine deswegen nicht ausschließlich durch die Nationalstaaten gelöst werden, da sie in ihrer Natur globale Phänomene sind, die nicht an staatlichen Grenzen Halt machen.
Home-Office und die Arbeitswelt der Zukunft
Nächster Punkt: COVID-19 verdeutlicht, dass das Konzept des achtstündigen Bürojobs endgültig ausgedient hat. Nicht erst seit gestern spielt das Thema der Digitalisierung und Automatisierung eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Arbeitswelt der Zukunft. Was gegenwärtig unter dem Stichwort Home-Office große öffentliche Beachtung findet, wird wohl in wenigen Jahren, unabhängig von COVID-19, allgemeine Realität geworden sein. Der Arbeitsplatz wird, wo es eben geht, nach Hause verlagert werden, da die physische Anwesenheit der Angestellten nicht mehr notwendig sein wird, um in Echtzeit miteinander zu kommunizieren. Daneben wird in vielen Branchen generell erheblich weniger menschliche Arbeit vonnöten sein, da viele Aufgaben kosteneffizienter von Maschinen verrichtet werden können. Laut Schumpeter und seinem Ansatz der schöpferischen Zerstörung sind wirtschaftliche Disruptionen kein Systemfehler, sondern im Gegenteil notwendiger Wegbegleiter für Innovation und Erneuerung. Dies mag seine Richtigkeit haben, jedoch ist heutzutage damit nicht gesagt, dass für die wegfallenden Arbeitsplätze adäquater Ersatz innerhalb der Wirtschaft geschaffen wird, da davon auszugehen ist, dass die Nachfrage nach menschlicher Arbeit an sich sinken wird. Das Weltwirtschaftsforum in Davos beispielsweise geht in einer Studie davon aus, dass durch die Digitalisierung weltweit 7,1 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen, während nur 2,1 Millionen neu hinzukommen. Es scheint also durchaus plausibel zu sein, dass der gegenwärtige Zustand zur neuen Normalität werden könnte, besonders hinsichtlich der ansteigenden Zeit, in der der Einzelne sich selbst überlassen bleibt. Selbstverständlich ist jetzt nicht der Zeitpunkt voreilige Schlüsse aus der gegenwärtigen Krise zu ziehen, doch kann die anhaltende Isolation uns den Impuls geben, darüber nachzudenken, welche sinnvolle Beschäftigung für einen ganz persönlich in Frage kommt, jenseits der „normalen“ Betriebsamkeit des Alltags.
Warum wir nicht nur heute auf Distanz zueinander gehen
Zuletzt zum Phänomen der sozialen Distanzierung, die von uns abverlangt wird, um der Lage Herr zu werden. Auf den ersten Blick erscheint es befremdlich, den Kontakt zu seinen Mitmenschen weitgehend einzuschränken, doch scheint auch dies in einen größeren Kontext eingebettet zu sein. Durch den Siegeszug der sozialen Medien hat sich ohnehin die zwischenmenschliche Distanz vergrößert, da der Einzelne nicht mehr nur in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld existiert, sondern sich zunehmend in den Weiten des Internets wiederfindet. Dies gilt besonders für die jüngeren Generationen, die von Kind auf mit Handy und den anderen technischen Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre aufwachsen und für die ein Leben ohne virtuelle Kommunikation und Interaktion deutlich dystopischer erscheinen dürfte, als der kurzweilige Verzicht auf soziales Zusammentreffen. So ist davon auszugehen, dass die soziale Welt der Zukunft deutlich anonymer werden wird, da zufällige Begegnungen nicht dem eigenen Algorithmus entsprechen und folglich als befremdlich oder sogar bedrohlich wahrgenommen werden dürften. Der einzige Unterschied besteht demnach darin, dass die gegenwärtige Isolation uns auferlegt wird, während wir ansonsten aus freiem Willen heraus den Kontakt zu unseren Mitmenschen zunehmend meiden.
Gegenwart vs. Zukunft, bzw. Chancen vs. Risiken
Abschließend lässt sich sagen, dass aus Ausnahmezuständen relativ schnell neue Dauerzustände werden. Ein Blick in die deutsche Geschichte sollte als Beleg hierfür ausreichen. Für unsere Gesellschaft gilt, dass wir uns seit Jahren in einer gefühlten Dauerkrise befinden, die immer neue Formen annimmt. COVID-19 ist hierfür nur das jüngste Beispiel, wenngleich die Folgen und der Umgang mit der Krise davon zeugen, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Doch auch die Zukunft scheint sich in verschiedener Form schon jetzt anzudeuten, da das Virus, so abrupt es auch erscheinen mag, in einem größeren Zusammenhang steht. Digitalisierung ist auf einmal kein politisch umkämpfter Begriff mehr, sondern notwendige Alternative, um das Funktionieren unserer Gesellschaft zu gewährleisten, während ein verbesserter Umweltschutz als Nebenprodukt der Pandemiebekämpfung realisiert wird. Somit zeugt die COVID-19 Krise von gesellschaftlichen Chancen und Risiken, doch es ist an uns, die Gegenwart selbst in die Hand zu nehmen und mitzugestalten, um in einer Zukunft aufzuwachen, die womöglich weniger krisenanfällig sein wird.