Mit Russland assoziieren wir Schlagzeilen über Krim-Krise, Nordstream und die jüngsten Proteste im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen in Moskau. Hinter dem politischen Trubel findet, für uns deutsche Leser oft unbeleuchtet, das Alltagsleben statt. Nur wenig wissen wir über diejenigen, die ein Leben im Schatten der russischen Öffentlichkeit führen. Diesen Sommer hatte ich die Möglichkeit in St.Petersburg einen Einblick in die Situation von Menschen mit Behinderung in Russland zu gewinnen.
Die Lebensumstände der 14 Millionen Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und deren Familien in Russland sind prekär. Bis vor Kurzem waren sie kaum im öffentlichen Raum vertreten, ihre Bedürfnisse blieben weitgehend unbeachtet. Die Sowjetzeit prägt die Wahrnehmung von Behinderung bis heute: Leistungsfähigkeit und Produktivität waren die ideologischen Maßstäbe des “Homo Sovieticus“. Personen, die aufgrund von Behinderungen arbeitsunfähig waren, wurden in Anstalten interniert. Bis jetzt sind für diese Anstalten, auch Internate genannt, große Verbände verantwortlich. Jedoch sind diese sowohl institutionell als auch finanziell abhängig vom Staat und können dessen Politik kaum kritisieren. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brachen die sozialen Sicherungssysteme in den 90er Jahren zunächst zusammen, sodass vor allem nichtstaatliche Akteure einsprangen, um gehandicapte Menschen mit dem Gröbsten zu versorgen. Momentan wird die Sicherung der Versorgung von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen gemeinsam bestritten, was nicht selten auch zu Spannungen führt.
Seit wenigen Jahren ist ein Wandel erkennbar: Nach der Veröffentlichung eines Human Rights Watch Berichts im Jahr 2014 über die Lage von Menschen mit Behinderung in Russland und der Arbeit von NGOs ist der Druck auf die Regierung gestiegen, sich des Themas anzunehmen. Immer mehr Kindern mit schweren Behinderungen wurde seitdem der Schulbesuch ermöglicht, Heime und Organisationen öffnen sich zunehmend für Volontäre aus dem Ausland und die Regierung verabschiedete einen Plan zur Reform der Heimstruktur.
In St. Petersburg sprach ich mit Mitarbeiterinnen der Organisation Perspektivy, die sich um die Förderung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung und deren Familien in St. Petersburg und Umgebung kümmert. In ihrem Petersburger Büro treffe ich Anna Tulskaya, die Koordinatorin des Volontärprogramms und Svetlana Mamonova, die External Relations Beauftragte von Perspektivy.
Anna erzählt, dass Mütter in der Vergangenheit dazu aufgefordert wurden, ihr Kind direkt nach der Geburt in ein Heim zu geben. Heime seien nach wie vor die „normale“ Lösung für eine Familie, die mit der Behinderung eines Kindes konfrontiert ist. Die Betreuung in den Heimen kann jedoch eine individuelle Förderung nicht leisten, es fehle grundsätzlich an emotionaler Nähe und Fälle von Gewalt und Missbrauch stünden leider auch heute noch an der Tagesordnung. Eine systematische Integration von Kindern mit Behinderungen in öffentliche Schulen oder Werkstätten sei auch in großen Städten eher selten. Um die prekäre Situation für Menschen mit Behinderung und deren Familien zu lindern, ist Perspektivy seit 1996 im Raum St. Petersburg mit zahlreichen Initiativen aktiv. Die Organisation begann ihre Tätigkeit in einem Kinderheim in Pawlowski, wenig später nahm sie ihre Arbeit mit erwachsenen Klienten im Internat Peterhof auf – dort leben aktuell etwa 1200 Menschen. Perspektivy kümmert sich zusätzlich zur staatlichen Versorgung um individuelle Förderung und menschliche Nähe für jene Bewohner des Peterhof Internats, die sie am meisten gebrauchen. „Wir fordern die Umsetzung des von der Verfassung gesicherten Rechts auf Bildung für jeden ein und sorgen dafür, dass gewisse Mindeststandards in Sachen Förderung und Selbstbestimmung im Internat Peterhof gewährleistet werden“, erklärt Svetlana. Zum Beispiel gebe es nun einen Computerraum, Musik- und Malunterricht, Töpferkurse und sogar eine Gruppe, die elektronische Musik mache. All diese Aktivitäten böten nicht nur Ablenkung, sondern auch Perspektiven auf mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Heimalltag, berichtet Anna. Ein drittes Projekt ist die Förderung und Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern: Perspektivy bietet eine Tagesbetreuung unter der Woche, damit Eltern einen normalen Arbeitsalltag bestreiten können sowie ein „Centre for Crisis Situation“, ein Gästehaus, wo Eltern ihre Kinder in Notfällen für einen begrenzten Zeitraum unterbringen können. Mithilfe einer weiteren Initiative, der Unterstützung von weitgehend selbstständigen Wohngemeinschaften, soll die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderung gefördert werden: In Rasdolye, 70km entfernt von St. Petersburg leben bereits sieben Menschen mit Einschränkungen allein in einer WG – unterstützt von Perspektivy und der Kirche vor Ort. Die fünfte Richtung, in welche sich Perspektivy in Zukunft stärker entwickeln möchte, ist die Begleitung von Kindern aus dem Kinderheim während ihrer Eingewöhnungsphase im Internat. Kein Kind soll mit einer komplett neuen Umgebung konfrontiert sein ohne eine bekannte Person zu haben, die es begleitet.
Leider sei die verhältnismäßig gute Unterstützung für Menschen mit Behinderung in St. Petersburg im Vergleich zum Rest des Landes noch eine Ausnahme, erklärt Svetlana. Aber mittlerweile wollten immerhin fünf Regionen Russlands dem Beispiel der von Perspektivy betriebenen Projekte folgen. Die langfristige Vision bestünde darin, so Svetlana, immer weniger Menschen in Heimen unterzubringen. Im Idealfall sollten maximal zwanzig bis dreißig Menschen in Heimen zusammenleben und diese dezentral geführt und organisiert werden, um den individuellen Bedürfnissen der Behinderten besser gerecht zu werden. Teil dieser Vision sei außerdem eine bessere gesellschaftliche Integration, insbesondere in den Arbeitsmarkt. Gehandicapten und deren Familien müsse ein selbstbestimmteres Leben ermöglicht werden, ein erster Schritt dahin ist es, Familien so zu unterstützen, dass sie behinderte Kinder behalten könnten.
„Die Regierung unternimmt eher langsame Schritte für eine Restrukturierung des aktuellen Systems oder die Verbesserung der Infrastruktur, auch wenn sich in den letzten sechs Jahren einiges bewegt hat“, sagt Svetlana. Größtes Problem bei der Umsetzung ihrer Vision seien die Parlaments- und Regionalabgeordneten, deren Mentalität in Bezug auf das Thema Behinderung noch in der Sowjetzeit stecke. Die öffentliche Einstellung zu dem Thema werde hingegen deutlich besser: Zum Beispiel war es in der Vergangenheit ein großes Problem, dass Väter von behinderten Kindern die Familie verließen und es der Mutter ohne staatliche Unterstützung unmöglich machten das Kind zu behalten – im letzten Jahr habe kein einziger Vater eines mit Behinderung geborenen Kindes die Familie verlassen.
Perspektivy betrachtet es als Aufgabe, die russische Gesellschaft über das Leben und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung aufzuklären, und tut dies neben der institutionellen Arbeit durch zahlreiche öffentliche Veranstaltungen, Flohmärkte, Ausstellungen und Ausflüge. Besonders wirksam ist die Arbeit der Gruppe, welche mit elektronischer Musik im Internat Peterhof experimentiert. Der berühmte DJ Aphex Twin empfahl kürzlich die Playlist aus Peterhof „Build your house underground“. Das mutige Album lässt sich hören!
Luise ist einundzwanzig und kommt aus Dresden, momentan arbeitet sie als Volontärin für ein Jahr mit Perspektivy im Internat Peterhof mit dreizehn männlichen Bewohnern im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Wir treffen uns in einer typischen russischen Bäckerei auf der Hauptstraße St. Petersburgs, dem Nevsky Prospekt. Die Arbeit bei Perspektivy sei für sie unglaublich prägend, erzählt Luise, „man lernt sich selbst wirklich gut kennen.“ Vor allem der Winter war eine Herausforderung: dunkel, kalt und die Arbeit anstrengend. Auch sonst sei der Alltag kein Zuckerschlecken, erzählt sie, „Erschreckend ist der Mangel an Zuwendung und menschlicher Nähe, dem viele Menschen mit Behinderung ihr Leben lang ausgesetzt waren“. Viele Behinderungen ihrer Schützlinge seien das Ergebnis von Verwahrlosung. Aufgrund des Mangels an Zuwendung wandten sich die Menschen nach Innen und „wir Volontäre versuchen, sie wieder etwas nach Außen zu kehren“. Was auch häufig gelingt. Luise beschreibt die „irreale Lebensfreude“ ihrer Schützlinge und wie bereichernd die gemeinsame Zeit für sie sei. „Es geht eine Energie von meinen Schützlingen aus und die reißt mich mit“. Sie berichtet von einem sichtbaren Wandel in der russischen Gesellschaft im Umgang mit Behinderung, sie beobachte mittlerweile mehr Menschen mit Einschränkungen im öffentlichen Raum, eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen und bessere Perspektiven auf Selbstbestimmung.
Luise hat sich ganz bewusst entschieden, ihr freiwilliges soziales Jahr in Russland zu verbringen. „Wir denken nicht genug in Richtung Osten, Russland ist bei jungen Leuten eher negativ konnotiert und es gibt wenige Organisationen, die für ein freiwilliges soziales Jahr nach Russland entsenden“, erzählt sie. Doch die Auseinandersetzung mit Russland sei auf so vielen Ebenen wichtig und bereichernd, dass sie nur jedem dazu raten Die russische Gesellschaft sei alles andere als starr, gerade in Bezug auf den Umgang mit Behinderung sei ein Umdenken in Richtung mehr Inklusion und Öffnung erkennbar.
Organisationen wie Perspektivy arbeiten langfristig und nachhaltig an der Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung in Russland – mit bemerkenswertem Erfolg. Dennoch sind sie auf Unterstützung angewiesen und müssen ständig um Aufmerksamkeit kämpfen – die Lage von benachteiligten Gruppen in einem Land wie Russland fällt vor allem im Ausland oft durch das Raster der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch der „Blick nach Osten“ lohnt sich!