Geschichte ist in Polen ein umkämpftes Gebiet. Auf meiner Reise durchs Nachbarland bin ich Stiftungsmitarbeiterinnen, Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Politikern begegnet. Unsere Gespräche drehten sich um Erinnerungspolitik: Welche geschichtlichen Ereignisse sind in Polen heute besonders umstritten? Was ist die erinnerungspolitische Agenda der PiS Regierung? Welche Gegenangebote gibt es in Politik, Zivilgesellschaft und Kunst? Die polnische Geschichte, geprägt von verheerenden Jahren unter sowjetischer Besatzung und einer turbulenten Transformationszeit, ist uns Nachbarn oft nicht präsent, wenn wir die politischen Entwicklungen Polens kommentieren. Doch die Relevanz dieser Phasen und die Schwierigkeit ihrer erinnerungspolitischen Verarbeitung stehen im Zentrum politischer Konflikte, die uns und Europa betreffen.
Da es keine „Selbstorganisation“ eines kollektiven Gedächtnisses gibt, ist die Steuerung von Erinnerung auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene notweniger Bestandteil jedweder politischer Aushandlungsprozesse[1]. Im Sinne Aleida Assmanns verstehe ich unter Erinnerungspolitik den Versuch einer Gestaltung kollektiver Erinnerung. Erinnerungspolitik wird problematisch, wenn ein politisch befördertes Narrativ keine Widersprüche zulässt und die öffentliche Reflexion und Kritik unterbindet[2]. Die polnische Regierung versucht, ein Erinnerungsregime zu errichten, welches alle anderen Herangehensweisen an die Vergangenheit verdrängt.
Könnte man der polnischen Gesellschaft mit dem polnischen Soziologen Zygmunt Bauman attestieren, einer „Retropie“ anzuhängen? Retropien definiert Bauman als Visionen, die sich im Gegensatz zu Utopien „nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“[3]. Erschreckend gut passt dazu die Aussage meines Gesprächspartners Grzegorz Lewicki (ein freier Journalist, Anfang dreißig, der unter anderem für den konservativen Think-Tank Jagellonski Club schreibt), dass „alles, was du dem öffentlichen Bewusstsein verbietest, nationale Identität und Souveränität, als Zombie zurückkehrt“. Hat Grzegorz Recht? Wurde der polnischen Gesellschaft die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen in einem Maße verboten, die das Bedürfnis nach historischer Eindeutigkeit rechtfertigt? Ist Polen seit 2015 dominiert von untoten, instrumentalisierten Erinnerungen?
Warschauer Gespräche
Jolanta Kurska leitet die Geremek Stiftung in Warschau. Benannt nach Bronisław Geremek, einem polnischen Politiker und Historiker, der als Vertreter für die Solidarność-Bewegung am Runden Tisch verhandelte, ist die Stiftung dem Zweck der demokratischen Bildung gewidmet. Von PiS Politikern wird Bronisław Geremek heute als Verräter beschimpft. Entsprechend unter Druck steht seine Stiftung. Ich treffe Frau Kurska in ihrem eleganten holzverkleideten Büro in einer Altbauwohnung der Warschauer Innenstadt. Sie begrüßt mich freundlich und beginnt unser Gespräch dann mit einem deutlichen Statement: „Polen wird von einem autoritären Regime regiert. Dieses Regime lässt nur die Version der Geschichte zu, die seine politischen Ideen wiederspiegelt.“ All jenen Organisationen, die diesem Narrativ widersprächen, würde das Leben durch Rufmord, Entzug finanzieller Mittel oder unangekündigte Betriebsüberprüfungen schwer gemacht. Als Vermittlerin liberaler Werte und einer pro-europäischen Sicht auf die jüngere polnische Geschichte sei die Geremek Stiftung aus Sicht der Regierung der Feind.
Die PiS, so Kurska, wolle eine polnische Identität installieren, welche sich vor allem in der Abgrenzung zwischen „Uns – den guten, christlichen, stolzen Polen“ und „Denen – den feindlichen Kommunisten und Liberalen“ zeige. Demenstprechend werde auch die polnische Geschichte umgedeutet. Alle Veränderungen und Erfolge, die die Transformationsphase nach dem Ende der Sowjetunion 1989 bis zur Wahl der PiS 2015 brachte, würden nun systematisch negiert und demontiert. Außerdem werde konsequent eine Selbststilisierung als Opfer betrieben, die die Freund-Feind-Einteilung erleichtere. Die Rechte baue dabei auf tief im polnischen Bewusstsein verankerte Traumata auf, vor allem auf die Angst vor Fremdbestimmung. Aus der Sicht vieler Polen waren diejenigen, die 1998 am Runden Tisch saßen, der das Ende der Sowjetherrschaft in Polen markierte und sich unter anderem aus Vertretern der regierenden Arbeiterpartei (PVAP), der Solidarność und der katholischen Kirche zusammensetzte, post-Kommunisten, denen nicht vertraut werden konnte. Auch das Streben nach der EU-Mitgliedschaft wurde von vielen Polen als entbehrungsreich und einschränkend empfunden. Der Weg dorthin verlangte über Jahre hinweg harte Arbeit und unbarmherzige Sparsamkeit, um fremdbestimmten Standards zu genügen. Das Ziel wurde mit dem EU-Beitritt 2004 erreicht, viele Bürger fühlten sich jedoch ausgenutzt und nicht genügend für ihre Mühen kompensiert, zumal sich die wirtschaftliche Lage immens verbesserte, großzügigere Sozialleistungen aber ausblieben. Das Misstrauen gegenüber den Gestaltern der polnischen Demokratie nach 1989, die ökonomische Schere zwischen den Verlieren und Gewinnern der Tranformation sowie die Abhängigkeit von der EU liefern populistischen Bewegungen und Parteien in Polen das Material, um die Geschichte in Gut und Böse aufzuteilen und ein politisch nützliches Narrativ zu entwickeln. Das alles mit dem Ziel, so Frau Kurska, im öffentlichen Bewusstsein die Erkenntnis zu zementieren, dass Polen erst mit der Wahl der PiS gleichzeitig von der Diktatur der Kommunisten und der Untergrabung der nationalen Souveränität durch Brüssel befreit wurde.
Mit Mateusz Mazzini, Soziologe und Mitglied der polnischen Akademie der Wissenschaften unterhalte ich mich in der üppig bepflanzten Warschauer Unibibliothek über im Fokus der Politik stehende historische Ereignisse und Figuren. Ein Beispiel ist der Heldenkult um die so genannten `Vergessenen Soldaten‘. Die politische Rechte hat in ihnen kämpferische, bedingungslose, anti-liberale und anti-kommunistische Heldenfiguren gefunden. Diese ‚Soldaten‘ waren eine Gruppe, die sich nach dem Ende der Nazi-Besatzung und der Ausrufung des kommunistischen Regimes 1944 weigerte, ihre Waffen abzugeben und den Kommunismus bekämpften, erklärt Mateusz. Sie waren gewaltbereit und zogen plündernd durch Dörfer nicht-polnischer ethnischer Prägung. Vor allem Orthodoxe, Juden und Polen mit ukrainischer oder weißrussischer Abstammung wurden von ihnen drangsaliert. Jeder Hinweis auf das Leid, welches die ‚Vergessenen Soldaten‘ in einigen Dörfern verursachten, gilt bei der PiS als Lüge.
Eine erinnerungspolitische Methode der PiS, so Mateusz, ist das „memory layering“, also die gekonnte Umdeutung und Assoziation eigentlich nicht in Zusammenhang stehender Ereignisse. Ein Beispiel dafür ist die Verknüpfung der Erinnerung an den Warschauer Aufstand mit dem Gedenken an den Flugzeugabsturz von Smolensk 2010, bei welchem der Zwillingsbruder der PiS-Leitfigur Jarosław Kaczyński ums Leben kam. Beider Ereignisse wurde am 10. April 2018 mit einer großen Veranstaltung gedacht, wobei die Opfer des Warschauer Aufstandes und die Toten des Smolensk-Absturzes gleichermaßen als Kriegsgefallene geehrt wurden. Gegen den Aufmarsch rechtsnationaler und faschistischer Jugendgruppen sei bei der Veranstaltung nichts unternommen worden.
Mateusz erklärt sich den Erfolg des PiS-Erinnerungsangebots damit, dass Polen schon lange eine gespaltene Erinnerungskultur habe. Das gilt besonders für die Transformationsphase nach dem Fall der Sowjetunion. Aus Sicht der Rechten wurde diese von Kommunisten bestimmt und ist daher per se falsch, für die Linken hat die Transformation durch ihren neo-liberalen und „antisozialen“ Kurs versagt, und eigentlich alle Gruppen halten die Amtsträger dieser Zeit in irgendeiner Form für korrupt. Anstatt sich in dieses erinnerungspolitische Minenfeld zu begeben, wurde das Thema Transformation im öffentlichen Diskurs gemieden. Damit ging jedoch die Möglichkeit verloren, deren großen Erfolge – die liberale Demokratie in Polen, der wirtschaftliche Aufschwung, die EU-Mitgliedschaft – als gemeinsame Errungenschaften zu feiern und zum Gegenstand eines „positiven Patriotismus“ werden zu lassen. Laut Mateusz habe die PiS nun ein leichtes Spiel, denn sie lege eine klare Interpretation der Geschichte vor, welche die diffuse Skepsis großer Teile der Bevölkerung bestätige und auf kein Gegennarrativ stoße. Besonders problematisch ist, dass Linke und Liberale keine attraktiven erinnerungspolitischen Angebote entwickeln. Es fehle ihnen an Visionen, Geschlossenheit und einem Gespür für Symbolpolitik. Mateusz betont, dass solange die „so genannten progressiven Kräfte nicht zusammenraufen, die nationalistische Rechte das historische Feld weiter konkurrenzlos bespielt.“
Gegenentwürfe
Vor allem junge Menschen beschreiben mir oft ihre unerfüllten Hoffnungen an eine attraktive Gegenvision zum Weltbild der PiS. Zum Glück gibt es sie, diese Gegenangebote. Sie sind nur, im Gegensatz zur Klarheit und Dominanz des PiS-Narrativs leiser, vorsichtiger und vielschichtiger.
Marta Gontarska arbeitet beim Instytut Globalnej Odpowiedzialności (IGO), einer unabhängigen NGO in Warschau, die Lehrerfortbildungen zu den Themen Antidiskriminierung, Weltgeschichte und Nachhaltigkeit anbietet. „Schüler in Polen werden mit Detailwissen völlig überladen. Sie bekommen aber kein Gespür für den weiteren Rahmen vermittelt, in dem sich etwas abspielt, und sie werden erst recht nicht dazu angeregt, das Gelernte zu hinterfragen“, beklagt Marta. Der Unterricht vermittele keine kritische und demokratische Haltung. Die IGO versuche, diese Lücke zu füllen, indem sie Lehrer dazu ausbildet, im Unterricht weitere Perspektiven zu öffnen, Stereotype zu bekämpfen und kritisches Denken anzuregen. Da Geschichte ein fester Teil des Curriculums sei und nicht – wie kürzlich der Antidiskriminierungs-Unterricht – aus dem Lehrplan gestrichen werden könne, nutzten einige Lehrer diese Stunden, um mit ihren Schülern zu diskutieren. Das IGO biete Lehrern hierfür Material und Anleitung. Obwohl die IGO gerade jetzt Zuspruch erfährt, ist Marta von den hohen Umfragewerten für rechte Parteien bei Jugendlichen entmutigt: „Wir brauchen noch mehr Stimmen in der Zivilgesellschaft, die jungen Menschen einen Anreiz bieten, das, was Ihnen gerade an Geschichtsklitterei eingetrichtert wird, zu hinterfragen. Das öffentliche Schulsystem leistet das nicht.“
In einer Kneipe in Białystok im Osten Polens bin ich mit ich Seweryn Prokopiuk verabredet, einem Gründungsmitglied der Razem Partei vor Ort. Razem gibt es seit 2015, sie versteht sich als moderne Alternative zu den etablierten linken Parteien und wird vor allem von jungen Bildungsbürgern gewählt. Seweryn stammt aus einem weißrussisch, orthodox geprägten Dorf, welches unter den ‚Vergessenen Soldaten‘ litt. Er setzt sich mit seiner Partei explizit gegen den Heldenkult um die ‚Vergessenen Soldaten‘ ein. Auch wenn er generell gegen jede politisch vorgeschriebene Geschichtsdeutung sei, möchte er mit der Razem Partei die Menschen dazu ermuntern, sich mit den Geschichten des polnischen Widerstands zu beschäftigen: „Pilsudski, die Arbeiterunion, die Aufstände… Wir sollten an den Freigeist früherer Proteste anschließen und uns nicht durch einen Opferdiskurs selbst lähmen“. Er hofft, auf diese Weise eine positive Identifikation mit der Geschichte und gesellschaftlichen Zusammenhalt anregen zu können, ohne in die Nationalismus- und Rassismus-Kerbe zu schlagen.
Zurück in Warschau treffe ich Aleksandra Czerniawska. Sie ist Künstlerin mit einen weißrussisch-orthodoxen Hintergrund aus der Gegend um Białystok, lebt nun in Warschau und beschäftigt sich intensiv mit den ‚Vergessenen Soldaten‘ und der Erinnerung an ihre Verbrechen. Schon vor zehn Jahren, als das Thema politisch noch gar nicht so brisant war, schrieb sie ihre Masterarbeit über die Verbrechen der ‚Soldaten‘, veröffentlichte die Erfahrungsberichte ihres Großvaters, dessen Familie zum Teil von ihnen getötet wurde und malte einen Zyklus von Bildern, welche die ‚Soldaten‘ als Bedrohung für die weißrussische Gemeinschaft darstellt. Aus Angst vor Anfeindungen ist sie heute vorsichtiger in ihrem Engagement. Dennoch organisiert sie immer wieder Ausstellungen ihrer Bilder in Białystok, um den Opfern der `Soldaten‘ eine Stimme zu geben. Den allgemeinen Ruf nach Heldenfiguren findet sie befremdlich: „Warum der ständige Ruf nach Helden? Klar sollten wir einzelne Personen aus der Geschichte für ihre Leistungen oder Verbrechen besonders hervorheben. Aber dann müssen wir auch ein ehrliches Bild von ihnen zeichnen“. Ein Beispiel für eine differenziertere Erinnerung an Figuren mit historischer Strahlkraft hat Aleksandra selbst geschaffen. In Białystok sei man sich lange nicht bewusst gewesen, dass der bekannte Filmregisseur Dziga Vertov aus der Stadt komme. Als Aleksandra das herausfand, baute sie ein Denkmal für Vertov. Es besteht aus einem menschengroßen schwarzen Rahmen mit einer Scheibe, auf der Scheibe ist ein Auge zu sehen – ein bekanntes Bild aus einem Vertov Film – durch das der Betrachter hindurchschauen kann. Das Auge schaut in zwei Richtungen, gleichzeitig blickt man als Beobachter durch den Filter des Auges auf ein verändertes Straßenbild. Es habe schon kleine Proteste gegen die Statue gegeben, erzählt Aleksandra. Vertov war ein erklärter Kommunist und die PiS mobilisiere in Białystok gegen linke Einflüsse im öffentlichen Raum. Beschädigt wurde das Denkmal aber bisher noch nicht.
Untote Erinnerungen
Die PiS arbeitet fleißig an der Rehabilitation eines nach eigenen Wunschvorstellungen geschaffenen Gemeinschaftsideals unter dem „Rückgriff auf das Bild einer ursprünglichen nationalen Identität“[4]. So sicher wie beunruhigend ist, dass viele Polen das erinnerungspolitische Angebot der PiS attraktiv finden. Die kurz- und langsfristigen Gefahren, die diese Einstellung für ein liberales und demokratisches Gemeinwesen birgt, sind nicht zu unterschätzen. Angefangen bei der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Institutionen, der Instrumentalisierung des Bildungswesens, der historisch fragwürdigen Umgestaltung von Museen, bis hin zu der Unterstützung von teilweise faschistischen Gesinnungen, ensteht durch die Erinnerungspolitik der PiS in Polen ein enormer kultureller und politischer Schaden. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Flirt mit der Retropie zum Dauerzustand werden muss.
Das Erinnerungs-Regime der PiS ist nicht bedingungslos stabil: So musste sie ein umstrittenes „Erinnerungsgesetz“ vom Februar 2018 aufgrund der zahlreichen Proteste und des Drucks aus dem Ausland wieder stürzen. Die Oppositionsparteien haben erkannt, dass sie die Auseinandersetzung mit der Geschichte neu verhandeln müssen, künstlerische Initiativen widersprechen dem dominanten Narrativ und es gibt zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, die durch die Förderung des kritischen Urteilsvermögens und offenen Diskurses gegen Vereinfachung und Geschichtsklitterung ankämpfen. Sie tun dies im Hinblick auf eine liberale und demokratische Zukunftsvision. Damit erfüllen sie ein Angebot, welches der PiS grundsätzlich fehlt: Der Blick nach vorn.
[1] Assmann, Aleida (2015) Erinnerungsraeume. C.H.Beck, Muenchen.
[2] Ibid. S.15.
[3] Bauman, Zygmunt (2017) Retrotopia. Suhrkamp. Seite 13.
[4] Ibid. Seite 18.
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