Die Amnesty International Hochschulgruppe an der ZU setzt sich unter dem Dach von Amnesty Deutschland für eine Welt ein, in der alle Menschen ihre in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantierten Rechte genießen können. Sie bringt Menschenrechtsthemen in verschiedenen Kontexten der Uni ein, zum Beispiel mittels Fachvorträgen und Podiumsdiskussionen für die universitäre und städtische Öffentlichkeit vor Ort. Zudem engagiert sie sich in der Geflüchtetenarbeit mit dem Hauptziel, den Dialog zwischen “alten und neuen” BewohnerInnen Friedrichshafens zu stärken und Geflüchteten Zugang zu universitären Angeboten zu schaffen.
Seit diesem Semester setzt die Gruppe in ihren Veranstaltungen einen Schwerpunkt auf die Rechte von Minderheiten. Im Zuge dessen referierte Ulrich Bunjes, der von 2014 bis 2016 Sonderbeauftragter des Generalsekretärs des Europarates für Roma-Fragen war, zum Thema „Roma am Rande der Flüchtlingskrise“.
Roma bilden mit über 10 Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa. Umso verwunderlicher ist es, dass die Stabsstelle des Europarates für Roma-Fragen erst 2011 eingerichtet wurde. Seit Bunjes Abtritt 2016 hat Valeriu Nicolae, ein rumänischer Roma, das Amt inne. Die Hauptaufgabe des Sonderbeauftragten ist es, gegenüber den Mitgliedsstaaten als Vertreter von Roma-Interessen aufzutreten. Als klassisches intergouvernementales Organ ist der Europarat jedoch vis-á-vis den Mitgliedsstaaten nicht weisungsberechtigt – eine der alltäglichen Herausforderungen auch des Amtes eines Sonderbeauftragten.
Der Zuschauerraum der Black-Box ist bei Bunjes Vortrag eher spärlich gefüllt: Etwa 30 Zuhörer, davon 30% Häfler. Auch Mitglieder der Amnesty International Gruppe Friedrichshafen-Stadt sitzen im Zuschauerraum. Eine Dame ist mit der Tochter einer Roma-Familie gekommen, die sie seit bereits über zwei Jahren in ihrem Asylverfahren unterstützt. Ist die kleine Zuhörerzahl ein Abbild des geringen Interesses an Roma in der deutschen Gesellschaft?
Roma werden oft als „Das unbekannte Volk“ bezeichnet. Obwohl sie bereits vor mehr als 1000 Jahren ihre ursprüngliche Heimat in Nordwest-Indien verließen, um sich in Europa niederzulassen, sind sie Vielen immer noch fremd. Sie haben nicht nur mit hartnäckigen Vorurteilen zu kämpfen, sondern fallen darüber hinaus Diskriminierung und Rassismus zum Opfer.
Dies fängt bei der richtigen Bezeichnung der Minderheit an. Der Begriff „Roma“ umfasst eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen, die sich in Sprache, Religion, Bräuchen, aber auch in rechtlichem Status und Diskriminierungserfahrungen voneinander unterscheiden. Unter den vielfältigen Namen wie „Sinti“, „Manouches“, „Jenische“, „Dom“, „Kale“ und „Ashkali“, befinden sich auch diskriminierende Zuschreibungen so wie z.B. „Gypsies“ oder „Zigeuner“.
Die Benachteiligung der in Europa lebenden Roma ist strukturell. Das zeigen vor allem Beispiele aus dem Bereich Bildung: Die Ghettoisierung der Roma führt dazu, dass ihre Siedlungen weit außerhalb der Städte liegen, wo keine ausreichende Infrastruktur zur Verfügung steht. Da selbst der geringe finanzielle Aufwand für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oft eine unüberwindbare Hürde darstellt, bleiben viele Kinder dem Schulbesuch fern. Ein weiteres Beispiel sind Schuleignungstests, in denen Roma-Kinder z.B. tropische Früchte bezeichnen müssen. Eine vermeintlich einfache Fragestellung. Doch wenn man noch nie eine solche Frucht gesehen, geschweige denn probiert hat, gerät die Beantwortung zur Unmöglichkeit.
Im Zuge der aktuellen Migrationsströme werden Roma noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Für diese Entwicklung nennt Bunjes zwei entscheidende Gründe. Zum einen erhalten populistische, ausländerfeindliche Strömungen in ganz Europa Zulauf. Begriffe wie „Leitkultur“ werden salonfähig, „Ausländer“ werden für Dysfunktionalitäten der Staaten verantwortlich gemacht, viele fürchten Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen. Roma werden einmal mehr zur Projektionsfläche für Rassismus und Diskriminierung.
Die andere Ursache für die verschlechterte Situation vieler Roma ist die Verschiebung politischer Prioritäten. Da Roma in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ zahlenmäßig keine große Rolle spielen, rücken sie in den Hintergrund des Interesses staatlicher Einrichtungen. In zynischer Manier könnte man also tatsächlich von einer Art „Konkurrenzsituation“ zwischen Roma und Geflüchteten sprechen. Bunjes hat Angst, dass die bisherigen Integrationserfolge nun zur Disposition stehen – und viele Vertreter von Roma-Interessen mit ihm.
Deshalb engagiert sich der Referent unter anderem bei der Gründung eines europäischen Roma-Instituts in Berlin. Diese Einrichtung soll – analog etwa zum Goethe-Institut – als Interessenvertetung fungieren und Botschafter für die vielfältige Roma-Kultur sein. Sie hat zum Ziel, Roma mehr Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre Tradition zu geben. Gleichzeitig wird „Fremden“ ein besserer Zugang zur Lebensweise der Roma eröffnet. Die Vision: Roma endlich als kulturelle Kraft und Bereicherung zu betrachten statt wie bisher als politisches Problem.