„Das ist einfach nur gottlos“ – ein Satz, den man in letzter Zeit immer öfters beim Mensa-Mittagessen oder Gang-Geflüster aufgeschnappt hat und der durchaus als Selbstbeschreibung verstanden werden kann. Leben wir ja wortwörtlich in einer gottlosen Gesellschaft, in der im Westen der Atheismus gerade unter den jüngeren Generationen auf dem Vormarsch ist und die Kirchen überwiegend von älteren Menschen gefüllt werden. Der Bedeutungsverlust der Kirche wurde zuletzt auch gerade dann ersichtlich, wenn sich selbst der Vatikan unmittelbar an die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf die Coronapandemie gehalten hat und sie nicht als Strafe Gottes ausgelegt hat. Superspreader-Prozessionen, um den Zorn Gottes zu beschwichtigen, sind ein Gegenmittel der Vergangenheit – mRNA hilft eben besser als Myrrhe. Und dann sind da natürlich noch die unzähligen Missbrauchsfälle und weiteren Skandale, mit deren Aufzählung man gar nicht erst beginnen braucht. Der Bedeutungsverlust ist also keineswegs eine einzig traurige Entwicklung, der sich eine unschuldige Kirche hilflos ausgeliefert sieht, sie trägt zum großen Teil selbst Schuld daran. Und doch ist sie es, die einem in der Kindheit und Jugend – zumindest auf dem Dorf – einen festen Rahmen aus Traditionen und Ritualen mit auf den Weg gegeben hat. Waren es ja immer religiöse Feste und Feiertage, an denen die ganze Familie zusammenkam, um zusammen zu feiern. So etwas erdet und gibt Halt. Eine Erdung, die im modernen, digitalisierten und beschleunigten System oft abhandenkommt – vielleicht benutzen wir auch daher „bodenlos“ gerne als Synonym zu „gottlos“.
Eher „bodenseelos“ werden die meisten wohl die gerade vergangenen Osterfeiertage verbracht haben, um der berühmt-berüchtigten ZU-Blase zu entsteigen und in heimischem Umfeld etwas Bodenhaftung mit der Realität zu gewinnen. Für einige zählt dazu vielleicht auch der obligatorische Kirchgang zu Ostern, der nach zwei Jahren Lockdown nun wieder größtenteils uneingeschränkt möglich war. Doch waren es nicht nur zwei Jahre im Lockdown, sondern auch zwei Jahre Studium an der ZU, die währenddessen vergangen sind und einen diese eingesessene Tradition mit neuem Blick haben erleben lassen.
Der Gottesdienst of Choice ist in diesen Tagen natürlich immer das Osterfeuer in der Samstagsnacht. An der Kirche angekommen ist auch schon das orangene Flimmern des Osterfeuers auf dem kleinen Vorplatz zu erkennen, um das sich die Gläubigen kreisförmig aufgestellt haben. Dieses Mal fiel die Osternacht sogar mit dem Vollmond zusammen, was der Atmosphäre einen buchstäblich mystischen Schein verlieh. Allerdings wurde eine erste Veränderung zu den Vorjahren direkt ersichtlich: Das Osterfeuer war deutlich kleiner als sonst und flackerte in einer gewöhnlichen Feuerschale, wie sie der ein oder andere vielleicht auch im heimischen Garten stehen hat. Mit den hochbrennenden Flammen großer Holzscheite aus vergangenen Jahren hatte das wenig zu tun. Aber das passt: Die Kirche operiert zunehmend auf Sparflamme und hat von ihrer einstigen Strahlkraft als moralisches Leuchtfeuer der Gesellschaft einiges einbüßen müssen. Und außerdem geht es ja um die Symbolik.
Nach den einleitenden Begrüßungsworten des Pfarrers setzt dann die Prozession in die Kirche ein und der Kreis der Gläubigen, der sich um das Feuer versammelt hatte, löst sich allmählich auf und folgt ihm hinein in das Gotteshaus. An der großen Hauptpforte stehen die Messdiener mit einer Osterkerze, von denen das Feuer für die eigenen kleinen Exemplare bereitgestellt wird, als man hineingeht. Die Kirche ist komplett abgedunkelt, lediglich das Licht der vielen kleinen und großen Kerzen spendet gelblich-schimmerndes Licht. Die hohen Bögen des Hauptschiffes wirken dadurch um einiges eindrucksvoller und besitzen eine Ausstrahlung von stiller Erhabenheit über die eigene kleine Person. Ganz ohne Gemurmel, Gesang oder Orgelspiel findet der Einzug statt, bis jeder seinen Platz in einer der engen Holzbänke gefunden hat, die allerdings trotzdem mehr Beinfreiheit als bei Ryanair boten. Der geistliche Pilot der Prozession ergreift schließlich das Wort und eröffnet den Gottesdienst. Anschließend werden den gläubigen Passagieren verschiedene Passagen aus dem biblischen Bordhandbuch vorgelesen, angefangen mit der Schöpfungsgeschichte. Gründungsmythen haben in ihrer simplen Ursprünglichkeit immer etwas Faszinierendes an sich. Da ist der Himmel keine dünne Atmosphäre, bestehend aus verschiedenen Schichten, deren Molekülzusammensetzungen in komplexen Wechselwirkungen miteinander stehen und so die fragile Hülle unseres Planeten bilden. Nein: Der Himmel entsteht schlicht aus der Trennung des Wassers vom Wasser durch die Hand Gottes, der das aus dem oberen Wasser entstehende Gewölbe „Himmel“ nennt. Wenn wir an Christi Himmelfahrt, also das Aufsteigen Jesu in den Himmel feiern, dann läuft er genau genommen schon wieder auf Wasser.
Um Flüssigkeiten anderer Beschaffenheit handelte dann die nächste Lesung über die Auferstehung Jesu. Drei Frauen wollten gerade mit wertvollen Salben den Leichnam des Heilands aufsuchen, um diesen einzubalsamieren. Doch am Grab angekommen stellen sie fest, dass der Stein, der es eigentlich versiegeln sollte, beiseite geschoben wurde – das Grab war leer. Wenig später geschehen die ersten Sichtungen des erneut lebendigen Jesus und es wird klar: Christus ist auferstanden. Nach dieser Lesung müssen auch die Kirchgänger von ihren Bänken auf(er)stehen. Plötzlich einsetzende Orgelmusik erfüllt das ganze Kirchgewölbe, die Messdiener lassen ihre goldenen Glocken laut läuten. Die theatralischen Töne aus den Orgelpfeifen vibrieren im eigenen Brustkorb. Kombiniert mit dem abrupten Aufstehen sorgt diese religiöse Reizüberflutung wieder für eine Wachheit, die durch die zahlreichen Lesungen vorher ein wenig abhanden kam. Zugleich fühlt man sich klein. Der individualistische Kern, der in den letzten zwei Jahren ZU-Studium so wohl gedeiht ist, wird von den Himmelstönen der oben-gelegenen Orgel übertönt, von den hohen Gewölben und dem über dem Altar hängenden Kruzifix überschattet. Plötzlich ist man nur noch kleiner Teil einer Masse; einer Masse, die sich den Worten eines in weiß-goldene Gewänder mit verschnörkelten Symbolen gehüllten Mannes hingibt, die klar festgeschriebenen Verhaltensregeln folgt, die sich innerlich von laut tösenden Tönen mitreißen lässt und doch regungslos zwischen den Bänken verharrt. Eine durchaus absurde Situation.
Doch genauso plötzlich, wie diese Situation einsetzte, so plötzlich endet sie auch. Die Musik verstummt, wir setzen uns und es wird Zeit für eine letzte Lesung aus der Bibel. Währenddessen schweifen die Gedanken nicht nur weg vom Gesagten, sondern auch der Blick durch die von Kerzenschein schwach erleuchtete Kirche. Schemenhaft sind die Malereien an den weißen Wänden zu erkennen, die die Passionsgeschichte Christi in seinen einzelnen Stationen bildlich nacherzählen – quasi eine analoge Timeline. In den dicken Steinsäulen, die das Kirchengewölbe tragen, befinden sich gelegentlich kleine Aussparungen, in denen Heiligenfiguren oder Madonnenbilder stehen. Kaum zu übersehen ist natürlich das am prominentesten platzierte Symbol: das große Kruzifix, das über dem Altar schwebt. Mit erschlafftem Körper hängt Jesus an seinem Kreuz, den Kopf in Richtung Boden hängend. Wie kamen wir eigentlich darauf, die Leiche eines Menschen zum Hauptsymbol einer Weltreligion zu machen? Warum nicht eine Szene, in denen Jesus Brot teilt oder einen Kranken heilt? Irgendwie hat das Christentum etwas sehr Morbides an sich. Die griechischen Götter waren dagegen äußerst lebendig und lebensfroh, ihre Geschichten weitaus unterhaltsamer als diejenigen der Bibel und dabei zugleich bezogen auf die antike Realität. Vielleicht eine frühe Form des Infotainment. Galileo für Griechen, wenn man so will – nur ohne Werbung.
Aber zurück zum heute. Für den Bezug zur modernen Realität sorgte wenig später der Pfarrer höchstpersönlich: es wurde Zeit für die Predigt. Diese startete er mit Beschreibungen von den Beobachtungen der Erde, die Alexander Gerst 2015 bei seinem Aufenthalt auf der ISS gemacht hatte, nur um dann zu dem Schluss zu kommen, dass sich der Weltzustand seitdem eigentlich nur noch mehr verschlechtert hat: wir haben noch mehr Waldfläche gerodet, führen noch mehr Kriege und verbrauchen immer noch viel zu viele Ressourcen. Für diese Dosis Weltschmerz war man eigentlich nicht in die Kirche gegangen – da hätte das Durchscrollen der eigenen YouTube-Homepage auf der heimischen Couch, die dazu noch deutlich bequemer als eine Holzbank ist, genügt. Doch dann: der Lichtblick! Eine unerwartete rhetorische Finte des Pfarrers und plötzlich könnte sich unser Schicksal wieder zum Guten wenden. Wie ein durstiger Hirsch am Wasserloch, so sollen unsere Seelen mit Hoffnung gefüllt werden – das war die Metapher des inbrünstig predigenden Pfarrers. Unmittelbar nach dem Ende der Predigt wurden dann die Spendenkörbe durch die Reihen gereicht. Ein geniales Priming: den Anwesenden in der Predigt zuerst das Unheil der Welt vor Augen führen und ihnen ins Gewissen reden, um dann Spenden von ihnen zu sammeln. Ob Gott den kreativen Köpfen, die den Programmablauf eines Gottesdienstes ausgetüftelt haben, damals die Geheimnisse der behavioral psychology offenbart hat? Vielleicht ließe sich ja ein ganzes Semester „Psychologie der Entscheidungen“ mit mehreren Hundert Folien auf die Länge von zwei Steintafeln runterbrechen – das wäre ein wahrlich göttliche Leistung. Nachdem die Spende getätigt und der nicht schlecht gefüllte Korb an den Banknachbar weitergereicht ist, bahnt sich ein satanistischer Gedanke an. Eigentlich hätte man einen Pokerchip mitnehmen und mit in den Korb legen müssen – als kleine Anspielung auf den kürzlich bekannt gewordenen Fall, in dem das Erzbistum Köln Spielschulden eines Geistlichen in Höhe von 1,15 Millionen Euro übernommen hatte.
In klassischer Manier der Verhaltenspsychologie folgt nach der Buße dann die Belohnung: das Taufversprechen wird erneuert. Nachdem wir dem Satan widersagt und unser Glaubensversprechen an Gott und die heilige katholische Kirche garantiert haben, geht der Pfarrer durch die Gänge. Ein Messdiener begleitet ihn und trägt eine Schale mit Weihwasser, aus dem der Pfarrer immer wieder einen zeptarartigen Stab mit kugelförmigen Kopf befüllt. Während er die Kirche zügig durchschreitet, schwenkt er diesen kraftvoll mit einem Arm, sodass einige Wassertropfen durch die Bankreihen fliegen und mit den aufrechten Häuptern der Gläubigen ihr Ziel finden. Der durstige Hirsch in mir hätte allerdings auch etwas mehr als nur ein paar Tröpfchen vertragen. Frisch getauft nähern wir uns dann dem Ende und zugleich dem Höhepunkt eines jeden Gottesdienstes: der Hostienweihe. Auch hier gibt es wieder bestimmte Mantras, die es zu sagen gilt, wie etwa: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. Selbsternannte YouTube-Confidence-Coaches würden bei diesem Satz die Hände über den Kopf zusammenschlagen – ganz, ganz schlechtes Mindset. So wird das mit dem Lamborghini und der Rolex nichts. Dann werden die Oblaten durch die Kraft Gottes in das Fleisch Christi und der Wein in sein Blut verwandelt. Kurz danach bilden sich schon die Warteschlangen in den Gängen zwischen den Bankpartien, um den Leib Christi zu empfangen. Langsam und andächtig geht es voran. Welche Hand musste beim Hostienempfang noch einmal oben liegen? Die Linke auf der Rechten oder umgekehrt? Letztendlich wird es die Rechte, sodass die linke Hand die Hostie zum Mund führt, während sich vor dem am Kreuz hängenden Jesus verneigt wird. Schon wieder so eine absurde Situation. Man isst symbolisch vom Fleisch Jesu, während man sich vor einer symbolischen Abbildung seines toten Körpers am Kreuz verneigt. Aber das ist ja das Faszinierende an Symbolik: durch sie kann man den absurdesten Situationen einen Sinn verleihen und sie damit ‚normal‘ werden lassen.
Nachdem jeder Anwesende diese Absurdität durchlaufen hatte, setzt der Pfarrer zu den Schlussworten an, wünscht ein frohes Osterfest und lädt im Nachhinein zu einem Glas Wein beim Osterfeuer ein. Schließlich war es gerade das, was uns die letzten zwei Jahre so gefehlt hatte: das Beisammensein. Eine schöne Geste. Und es war auch schön, am Osterfeuer zusammen ein Gläschen Wein zu genießen. Zugleich liegt hierin doch auch irgendwie das Paradox der Kirche im 21. Jahrhundert. Alt gepflegte Traditionen wie etwa die Hostienweihe kann man aufgrund der eigenen wokeheit eigentlich nicht mehr Ernst nehmen. Die Kirche als Institution müsste man eigentlich direkt canceln. Und die Bibel ist zum Meme geworden, weil wir sie zu wörtlich nehmen – welcher Mensch läuft schon ernsthaft übers Wasser?
Trotzdem bietet die Kirche etwas, das in diesen Zeiten – trotz ihrer sichtlichen Rückwärtsgewandheit – für erfrischenden Wind sorgt. Denn dort geht es um die Zukunft der Menschheit als Gesamtes und nicht um die gegenseitige Aufwiegelung über winzige politische Streitigkeiten und Positionen. Es geht darum, gemeinsam für ein paar Stunden eine geteilte Realität zu erleben, anstatt sich alleine einer algorithmisch-konstruierten, einzigartigen Parallelrealität hinzugeben. Und ja: Es geht auch um die Probleme dieser Welt, aber da wo die Medien aufhören – nämlich bei den Problemen – geht die Kirche immerhin noch einen Schritt weiter und bietet den Menschen die Hoffnung auf Besserung an. Vielleicht muss man mit den Ambivalenzen, die sie in sich vereint, einfach leben lernen – wie mit so vielen andern Ambivalenzen eben auch. Und vielleicht ist es von Zeit zu Zeit gar nicht so schlecht, sich absichtlich in solch ‚veraltete‘ Strukturen zu begeben. Denn bei all ihren Unzulänglichkeiten bieten auch diese wertvolle Perspektive auf unsere Welt.
Woran die kreativen Köpfe hinter der Gottesdienstgestaltung allerdings noch etwas arbeiten könnten, um die Kirche wieder einigermaßen anschlussfähig zu gestalten, wäre das Format. Über 90 Minuten am Stück nur Zuhören und Amen sagen ist vielleicht auf der Couch vor Netflix möglich, aber bei weniger stimulierenden Aktivitäten wie Bibellesungen mit notorisch verkürzter Aufmerksamkeitsspanne dann doch eine Herausforderung – im Gotteshaus möchte man ja auch nicht weltlichen Genüssen wie dem eigenen Instagram-Feed frönen. Und gerade als ZU’ler fühlen sich eineinhalb Stunden Input ohne die Möglichkeit, selber etwas sagen zu können, ohnehin schon wie eine Strafe Gottes an.