Erst #deutschrapmetoo, dann #konsequenzenfuerluke. Zwei in diesem Jahr trendende Hashtags, die eine enorme mediale Aufmerksamkeit erhielten. In beiden Fällen handelt es sich um erhobene Vergewaltigungsvorwürfe, die zunächst dementiert und zu einem späteren Zeitpunkt fallen gelassen wurden.
Hierbei handelt es sich nicht um Einzelfälle – nur 8% aller erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe in Deutschland führen zu einer Verurteilung. Das liegt zum einen daran, dass schwer nachzuweisen ist, ob eine Einwilligung zum Geschlechtsverkehr stattgefunden hat oder nicht, zum anderen zögern Betroffene im ersten Moment aufgrund traumatischer Belastungen oder Scham oftmals zur Polizei zu gehen. Verletzungen, die einen sexuellen Übergriff nachweisen würden, sind rückwirkend nicht mehr festzustellen, bleiben daher als Beweis meist aus.
Zum Hintergrund beider Fälle:
Nika T., ein 22-jähriges Erotikmodel aus Hamburg, erhebt im Juni 2021 Vorwürfe gegen Rapper Samra. In einem Video, das sie zunächst auf Instagram veröffentlicht bevor sie zur Polizei geht, erzählt sie von ihrem ein Jahr in der Vergangenheit liegenden Studioaufenthalt, in dem der 26-Jährige sie vergewaltigt haben soll. Sie habe mehrere Male laut „Nein“ gesagt, schildert sie. Irgendwann hättet sie „es einfach über sich ergehen lassen“. Viele Menschen im Netz solidarisieren sich mit ihr, Pullover mit der Aufschrift „Nein heißt Nein“ werden gedruckt, es werden Spenden gesammelt, um ihre Anwaltskosten zu decken. Auf der anderen Seite schlägt ihr viel Hass entgegen. Menschen unterstellen ihr, sie würde „nur Aufmerksamkeit wollen“ oder betreiben Victim-Blaming. Victim Blaming meint auf Deutsch die Täter-Opfer-Umkehr, durch welche die Schuld beim Opfer gesucht wird. Kommentare wie „Kein Wunder, so geil wie du aussiehst“ oder „Du hast es doch drauf angelegt, als du dich mit ihm getroffen hast“, häufen sich unter ihren Posts. Selbst Morddrohungen erfährt Nika T. Sowohl im online- als auch im offline Raum. Auf die Frage, warum sie sich überhaupt mit ihm getroffen hätte, antwortet sie, aus Minderwertigkeitskomplexen nach „Aufmerksamkeit von Männern“ gesucht zu haben. Sie impliziert damit eine an sich selbst gerichtete Teilschuld, welche auch User:innen ihr zuschreiben. Das ist nicht richtig. Kein Verhalten bedingt oder provoziert sexualisierte Gewalt. Die 22-Jährige erklärt ihren Schritt an die Öffentlichkeit zu gehen damit, dass andere Frauen „aus ihren Fehlern“ lernen sollen. Im Rahmen der stattfindenden Debatte entsteht der an den Weinstein-Skandal anlehnende Hashtag #deutschrapmetoo. Ein Hashtag, der Betroffenen die Möglichkeit geben soll, mit ähnlichen Erfahrungen innerhalb der Szene an die Öffentlichkeit zu gehen.
Ein anderer, aber dennoch Parallelen aufweisender Fall ist Auslöser für den Hashtag #konsequenzenfuerluke. Es geht um Podcasterin Ines Anioli und Luke Mockridge, einem der erfolgreichsten Comedians Deutschlands. Die beiden führen zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Tat eine Beziehung. Mockridges übergriffiges Verhalten Anioli gegenüber, ist der 35-Jährigen erst zu einem späteren Zeitpunkt klar geworden. Erstmalig in der Öffentlichkeit spricht sie über die Nacht, die sie später zur Anzeige bringen wird, in ihrem Podcast „Besser als Sex“. Allerdings in einem Rahmen, in dem es thematisch um toxische Beziehungen, nicht um Vergewaltigung geht. Als sie realisiert, dass ihre Grenzen ohne ihre Einwilligung in der Vergangenheit überschritten wurden, geht sie zur Polizei und schildert eine Nacht, in der sie keinen Sex haben wollte, ihr damaliger Freund daraufhin hartnäckig blieb und sie weiter anfasste. Sogar der Satz „jetzt hätt‘ ich dich beinah vergewaltigt“, soll gefallen sein. Es folgt eine mediale Schlammschlacht aus Statements und Kommentaren. Darunter das kontrovers diskutierte Statement von Schauspielerin Joyce Ilg, eine Freundin von Luke Mockridge. In einem 33-minütigen Video echauffiert sie sich über eine fehlende Objektivität in der Debattenkultur rund um Luke Mockridge und Ines Anioli. Als Freundin des Angeschuldigten. Ein paar Minuten später folgt der Satz, Luke sei „so ein netter Kerl“, der „niemanden ins Gebüsch gezerrt“ hätte. Er sei doch „kein Monster“. Die Betonung auf das Gebüsch scheint für sie von Relevanz zu sein, da sie weiter fortfährt, es ginge in einer Beziehung ja dann schon um Eigenverantwortung, jeder müsse innerhalb einer Beziehung „auf sich Acht geben“ – ganz nach dem Motto „wenn jemand seine Grenzen nicht kennt, dann ist das halt eine individuelle Schuld des Betroffenen“. Tatsächlich glaube ich, dass sie überzeugt ist von dem, was sie sagt. Und genau das macht mir Angst. Denn ich glaube nicht, dass sie sich der Gefährlichkeit ihrer Worte bewusst ist. Seit wann können Vergewaltigungen nur im Gebüsch stattfinden? Und seit wann ist es für Situationen wie diese relevant, dass jemand so ein „netter Typ“ ist?
Erst letzte Woche veröffentlicht der Spiegel einen Artikel, in dem zehn Frauen grenzüberschreitende Situationen schildern, in denen Luke Mockridge unangebrachte Dinge zu ihnen gesagt haben soll. Eine Frau berichtet, er sei ihr ungefragt „an den Arsch gegangen“. Der Spiegel zeichnet daraufhin ein Bild eines Mannes, der „sich nicht im Griff“ hat. Luke Mockridges Anmachen im Club sind übergriffig und verwerflich – hat er deshalb seine Freundin vergewaltigt? Das wissen wir nicht. Ines Anioli macht einen Sex Podcast und bleibt nach den Übergriffen weiter mit ihm zusammen. Gibt das Aufschluss darüber, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht? Nein.
„In dubio pro reo“ (= im Zweifel für den Angeklagten) – dieser Grundsatz ist im deutschen Recht nicht ausdrücklich normiert, seine Geltung und zentrale Funktion im Strafverfahrensrecht jedoch unumstritten. Er stellt dabei keine Beweis- sondern eine Entscheidungsregel dar, die das Gericht zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Gesamtwürdigung aller Tatsachen und Beweisergebnisse nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag. Indem der Strafprozess den Strafanspruch des Staates um des Rechtsgüterschutzes einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmig geordneten Verfahren durchsetzt und dabei eine wirksame Sicherung der Grundrechte der beschuldigten Person gewährleistet, sichert er das auch aus dem Prinzip der Menschenwürde abgeleitete Schuldprinzip: Für eine Handlung kann nur bestraft werden, wem sie nachweislich vorwerfbar ist. Dass das vor allem bei Vergewaltigungsvorwürfen einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, ist klar. Und dennoch gilt, was Ferdinand von Schirach stets betont: Wir sprechen von Recht, nicht von Gerechtigkeit.
Beide Männer sind nicht verurteilt worden, was nicht bedeutet, dass sie unschuldig sind. Im Umkehrschluss aber auch nicht, dass sie es sind. Es ist richtig und wichtig, dass sexualisierte Gewalt und Grenzüberschreitungen in jeglichem Sinne vermehrt thematisiert werden – sowohl in der Medienbranche, auf Social Media oder in der „realen Welt“. Dennoch möchte ich gerne an die Rationalität von Leser:innen appellieren, die sich mit solchen Fällen auseinandersetzen. Schockiert hat mich an beiden Fällen vor allem die entstandene Lagerbildung, innerhalb derer sich Social Media Nutzer:innen als Freizeit-Richter:innen probieren. Ausschließlich polarisierende Meinungen und Schuldzuweisungen in den Kommentarspalten, keine Spur von Rationalität oder Sachlichkeit. Gerade Vergewaltigungsvorwürfe sind ein hochemotionales und sensibles Thema. Aber keine Außenwahrnehmung darf bestimmen, ob jemand recht hat oder nicht.
Die Lager, die sich online bilden, zeichnen ein Bild, das verstört. Nika T. kann als Erotikmodel, dass mit Onlyfans ihren Lebensunterhalt verdient, nicht vergewaltigt worden sein, denn sie zieht sich ja freizügig an und hat sich ja auch sonst freiwillig und „aus Famegeilheit“ mit Rappern getroffen. Auch auf der anderen Seite macht die Argumentation keinen Sinn. Weil sie eine Frau ist, die sich trotz bis heute existenten patriarchalen Strukturen gegen einen Mann auflehnt, hat sie automatisch recht?
Dann gibt es noch Rapper Samra, jener Künstler, der Frauenverachtende ins Mikrofon rappt. Dieses heteronormative, toxisch männliche Bild zeichnet eine Person, die dann mit dem Künstler eines wird? Das ist dann die Beweisführung innerhalb der Lagerbildung dafür ob jemand recht hat oder nicht. Es steht zur Debatte, wo Kunstfreiheit beginnt und wo sie aufhört – zu diesem Thema in einem anderen Artikel mehr. Der eigentlich Punkt ist doch, dass ich als Rezipient:in niemals aufgrund der individuellen Außenwirkung der betroffenen Personen darüber urteilen kann, wer die Wahrheit sprich und wer lügt. Diese Außenwirkung Jener darf nicht über die Kredibilität entscheiden, die einer Person zu- oder abgesprochen wird.
Genau das gleiche gilt für den #konsequenzenfuerluke – Case. Ein anschließender Disneybesuch des Paares nach der angeblichen Tatnacht hat keine (!!) Aussagekraft darüber, ob die Anschuldigungen wahr sind oder nicht. Die Bewältigungsstrategien von Opfern reichen von bis. Kein Mensch, dem nicht ähnliches widerfahren ist – und selbst dann nicht – kann beurteilen, was nach einem geschehenen Übergriff „normal“ ist. Ein Sex-Podcast kann auch nach einer Vergewaltigung geführt werden. Es können auch weiter kurze Kleider getragen werden – das alles sagt nichts (!) darüber aus, ob jemand tatsächlich Opfer von sexueller Gewalt wurde oder nicht.
Die Lagerbildung im online-Raum ist dahingehend nachvollziehbar, dass natürlich immer Sympathien oder Antipathien entstehen – das ist nur menschlich. Auch Solidaritätsbekundungen Opfern gegenüber sind richtig und wichtig, alleine aus der Hoffnung heraus, weiteren Opfern Mut zu machen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Dennoch fehlt mir bei der Betrachtung medialer Diskurse das Durchatmen seitens Userinnen und User, bevor sie sich dazu entschließen, sich auf die Seite für oder gegen eine Person zu stellen.
Natürlich brechen Herzen, wenn ein Mann wie Bill Cosby, der als moralischer Kompass und Ikone der Gleichberechtigung in den USA gilt, angeklagt wird. Natürlich scheint diese Person, mit der sich tausende Menschen identifizieren, unvereinbar mit 60 schweren Vorwürfen von Frauen, die angeben, von ihm betäubt und sexuell missbraucht worden zu sein. Andersherum scheint ein Mann wie Kachelmann, der mehrere Affären gleichzeitig hat, in jeder Stadt quasi eine Frau, so jemand wirkt auf der Anklagebank schon viel verdächtiger. „Ja, so einer, der so gegen den Wertekompass unserer Gesellschaft verstößt, so einer legt sicherlich ein übergriffiges Verhalten an den Tag“, scheint dann der O-Ton des Gerichtsprozesses zu sein.
Das darf nicht sein: Weder die Außenwirkung von vermeintlichen Opfern noch die Außenwirkung von vermeintlichen Täter:innen, darf bestimmen wie juristisch entschieden wird.
In dubio pro reo – auch wenn ein bitterer Nachgeschmack bleibt.