Donnerstagabend, 18:00 Uhr. Ausgangssperre, Corona eben. Also schauen wir den Dokumentarfilm ‘For Sama’ von Waad al-Kateab. Hinter dem Bildschirm fallen Bomben auf die Kinder in Aleppo, vor dem Bildschirm fallen heimliche Tränen auf meinen Schoß. Meine Ohren rauschen vor Wut auf die Bombenwerfer. Ich verurteile sie für ihre Bosheit.
Neben mir sitzt Rachmatullah, mein kleiner Pflegebruder aus Afghanistan. Im Gegensatz zu mir weint er nicht, denn er kennt die Bilder vom Krieg schon aus seiner eigenen Kindheit. Shazwan, mein anderer Pflegebruder, kann den Film nicht mitschauen. Zu nah sind ihm noch die Geräusche der einschlagenden Bomben und Patronen.
Während sich in meinen Kopf die Gedanken über ihre Geschichten vom Leid des Krieges und vom Verlust ihrer Väter überschlagen und sich mit den Eindrücken vom Film vermischen, verwandelt sich meine Wut zunehmend in Scham. Beide Jungs haben keinen Asylstatus in Deutschland bekommen. Verzweifelt versuche ich in meinem Kopf zu argumentieren und zu rechtfertigen, dass die anderen die Bösen sind, nicht aber wir. Aber es gelingt mir nicht.
In solchen Moment, wenn ich ihnen in die Augen schaue, würde ich gerne mit ihnen tauschen, um dieses Gefühl der Scham nicht mehr spüren zu müssen, um ihnen noch ein paar Jahre eine Kindheit zu ermöglichen, die ich mein Leben lang genießen durfte. Sie werden schon bald wieder nach Afghanistan gehen müssen, ich werde mein privilegiertes Leben weiterleben dürfen – oder müssen. Ich spüre deutlich den Imperativ mich am Leben zu berauschen, ohne unterscheiden zu können, ob er meinen eigenen Gedanken entspringt oder Teil von meinem Umfeld ist. Der Alkohol hilft, um die Dissonanz zwischen meinem Idealismus und meiner Mutlosigkeit für diesen zu kämpfen, zu ertränken. Laute Bässe auf Uni-Partys helfen, um das Dröhnen der Stille zu übertönen. Schließlich kann man sich ja nicht nur Sorgen, um andere Menschen machen, sondern man muss auch auf sich selbst aufpassen, um auf keinen Fall überfordert zu sein. Liebe, die weh tut, hilft keinem. Morgen kann ich dann als glücklicher Mensch die Welt verändern – zumindest ein bisschen, solange es nicht meiner Selbstverwirklichung im Weg steht. Schließlich muss ich ja auch erst erfolgreich und gut ausgebildet sein, um später möglichst effektiv helfen zu können.
Diese Gedanken sind so gefährlich für mich, weil sie so echt sind.
Neben meinen Pflegegeschwistern zu sitzen und diesen Film zu schauen, löst ein unbeschreibliches Gefühl aus, das diese Gedanken als Heucheleien entlarvt. In einem einzigen Satz hat der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn dieses Gedankenmodell der Schuldabwälzung auf andere, wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen:
“Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Menschen”
Ich muss mir eingestehen, dass die Rechtfertigungen für meine Untätigkeit den Rechtfertigungen von Assad vermutlich gar nicht mal so unähnlich sind und dort, wo sie sich unterscheiden zu einem großen Teil damit erklärbar sind, dass ich in einem fürsorglicheren Umfeld aufgewachsen bin. Ich muss verkannt haben, dass die Hände des Täters meine eigenen Hände sind und das Gesicht der Opfer mein eigenes Gesicht ist.
Ich merke immer öfter, dass ich so voll von mir selbst bin, dass ich keinen Platz für die Sorgen anderer habe. Mein persönlicher ‘pool of worry’[1] ist bis zum Rand mit Sorgen über meine Beziehungen, Zukunft und der paradoxen Sorge, um die vollste Ausfüllung und Auslebung meiner Freiheit, gefüllt. #fearofmissingout- Was übrig bleibt teilen sich Freunde und Familie.
Damit bin ich überfordert. Ich habe gelernt andere Menschen in Kategorien einzuteilen, ihre Interessen und Motive zu analysieren, ihre Entscheidungen nachzuvollziehen, Prognosen über ihr Handeln abzugeben und strategisch zu planen, welche Machtstrukturen und Normen es bräuchte, um diese Gruppen von Menschen an “schlechten” Handlungen zu hindern. Aber nichts davon verrät mir etwas über die Grenze Solschenizyns, die in jedem Menschen und damit auch in mir verläuft.
Vielleicht hilft mir Religion oder Philosophie?
Aber auch hier ertappe ich mich beim heucheln. Wenn mir der philosophische, humanitäre und religiöse Auftrag andere Menschen bedingungslos zu lieben, zu radikal erscheint, beginne ich ihn zu theoretisieren und in komplizierte Begrifflichkeiten zu verpacken, um mich hinter einem gespielten Unverständnis verstecken zu können. Sören Kierkegaard formuliert diesen Gedanken in Bezug auf das Christentum: “Die Bibel ist sehr leicht zu begreifen. Doch wir Christen sind ein Haufen ränkevoller Schwindler. Wir tun so, als ob wir unfähig seien, sie zu verstehen. Wissen wir doch sehr genau, dass wir von dem Augenblick an, in dem wir sie verstehen, entsprechend handeln müssen.”
Wo also finde ich diesen nötigen Halt, um der deterministischen Prädisposition meines Herzens zu entkommen und die Grenze in meinem Herzen in eine gute Richtung zu verschieben?
Ich finde ihn dort, wo ich mich von Menschen berühren lasse, die den Auftrag radikal zu lieben in ihrem Herzen tragen. Menschen, die sich von der obligatorischen Glückseligkeit der Gesellschaft befreit zu haben scheinen. Menschen, die den Pessimismus der Vernunft in einen Optimismus des Willens verwandeln. Menschen, die den Mut haben, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Menschen, die bereit sind Chancen verstreichen zu lassen und ihre Privilegien zu opfern. Menschen, die den Stöpsel in ihrem ‘pool of worries’ gezogen haben, anstatt zu versuchen die Sorgen in exzentrischen Urlauben zu überdecken und in exzessiven Räuschen zu ertränken. Menschen, die deshalb Platz haben für die Sorgen anderer Menschen. Menschen, von denen ich bedingungslos geliebt werde und die mir durch ihr Vorbild immer wieder zeigen, was für ein Heuchler ich bin, ohne dass sie mich jemals dafür verurteilen würden. Menschen, die mir ein alternatives Lebenskonzept vorschlagen. Ein ungemütlicheres, riskanteres Lebenskonzept mit mehr Tränen, aber dafür auch mit einer tiefen Zufriedenheit Mensch sein zu dürfen.
[1] Because people have a limited capacity for how many issues they can worry about at once, as worry increases about one type of risk, concern about other risks may lessen (Linville, P.W., Fischer, G.W. (1991). Preferences for separating and combining events: a social application of prospect theory and the mental accounting model. Journal of Personality and Social Psychology, 60, 5–23).